sehepunkte 23 (2023), Nr. 2

Björn Karlsson: Koloniale Spuren am Niederrhein

Eine umfassende Bestandsaufnahme kolonialer Verflechtungen einer Kleinstadt bietet Björn Karlsson in seiner gelungenen Studie zum niederrheinischen Viersen. Explizit schreibt er seine Untersuchung in eine postkoloniale Beschäftigung mit der Kolonialgeschichte ein, wobei er diese vor allem an der, die Metropole wie Kolonie gleichermaßen verändernden, Wirkung festmacht. Zugleich geht es ihm darum, die "herausragende Bedeutung" des "Kolonialzeitalters" (13) auch für Viersen darzustellen. Damit nimmt er den kleinstädtischen Raum in den Blick und verweist mit Recht darauf, dass bisher die großstädtische Perspektive dominiere.

In Bezugnahme auf diese bestehenden Forschungen beschäftigt sich Karlsson mit fünf Feldern (Wirtschaft, Vereine, Institutionen, Presse, Biographien), bevor er explizit die Gegenwart thematisiert. Dem voraus geht neben der Einleitung, ein Kapitel zu terminologischen und sprachlichen Fragen sowie eines zur historischen Kontextualisierung. Sprachlich geht Karlsson sensibel vor, beim Zitieren von Quellen bleibt er geschichtswissenschaftlichen Standards treu. Dass systematisch der Begriff "PoC" verwendet wird, um meist Afrikaner:innen zu beschreiben, könnte diskutiert werden [siehe Alternative(n) B(I)PoC]. Und wenn schon sprachliche Sensibilität angemahnt wird, sollte von Deutschland als einer "verspäteten Nation" (22) nur noch in Anführungszeichen gesprochen werden.

Insgesamt wird jedoch eine solide Kurzdarstellung des (deutschen) Kolonialismus geboten. Der anschließende konzise Überblick über Viersen kann ebenso überzeugen. Inwieweit allerdings das heutige Stadtgebiet schon vor den Gebietsreformen eine "kollektive Identität" besaß, kann vielleicht hinterfragt werden. Damit ist allerdings ein Problem adressiert, das durchaus etliche Studien zum Kolonialismus vor Ort haben, der Frage nämlich, welcher Raum eigentlich behandelt wird. Hier ist im Zweifelsfall eine bewusst gegenwärtige Perspektive ehrlicher als der Versuch, Kontinuitäten zu konstruieren.

Hinsichtlich wirtschaftlicher Verflechtungen kann Karlsson viele Kolonialwarenhandlungen nachweisen, verdeutlicht aber, dass mit diesem Label ganz Unterschiedliches gemeint sein konnte. In Viersen gab es allerdings ein überregional bedeutendes Unternehmen mit offensichtlichen Kolonialbezügen, nämlich "Kaiser's Kaffee-Geschäft". Karlsson zeichnet den schnellen Aufstieg der Kette seit den 1880er-Jahren und die Einbindung in koloniale Strukturen überzeugend nach. Er betont die visuellen Quellen, aus denen er allerdings kaum eigene Schlussfolgerungen zieht, sondern Joachim Zeller folgt - so bleibt es dabei, das Allgemeine einmal mehr im Konkreten nachzuweisen.

Anschließend untersucht Karlsson drei Typen von Vereinen. Für die Kriegervereine betont er die Plattformwirkung, direkte koloniale Propagandainstrumente waren sie nicht. Interessant ist der "Marineverein", der mit einem Admiral ein prominentes Mitglied mit Kolonialerfahrung aufweisen konnte. Dezidiertes koloniales Engagement gab es in Viersen kurz in Form einer Ortsgruppe des "Deutschen Kolonialvereins", die sich aber schon um 1888 auflöste. Eine lokale Abteilung der "Deutschen Kolonialgesellschaft" hingegen bildete sich nicht. Bedenkenswert ist der Hinweis des Autors, dass die vermeintlich enge "Verzahnung von Industrie und Kolonialenthusiasmus" (57) so eindeutig in diesem Fall nicht war. Vorsichtig bleibt er auch bei der Bewertung der kolonialen Dimension des Karnevals. Das kurze Unterkapitel allerdings zeigt, dass die Beschäftigung damit Interessantes verspricht.

Beim Blick auf die Kommunalpolitik lässt sich zwar keine Gegnerschaft, aber auch keine aktive Unterstützung kolonialer Ziele nachweisen. Eine größere Rolle spielte die Mission - allein 18 Steyler Missionare aus dem heutigen Viersen konnte Karlsson ermitteln. Er spricht vorsichtig davon, dass "koloniale Strukturen mit Christlichen interagierten" (66). Behandelt werden auch die Schulen, wobei die Beispiele eine Intensivierung kolonialer Agitation nach dem Ersten Weltkrieg nahelegen.

Die lokale Berichterstattung wird anhand der Thematisierung des "Boxerkriegs" in der Viersener Zeitung untersucht. Dabei zeigt sich einerseits der Versuch, journalistische Standards zu wahren, andererseits aber die Durchdringung mit kolonialistischen Deutungsmustern. Ob sich aus dem Beispiel allerdings eine "Omnipräsenz der kolonialen Geschehnisse" (74) ableiten lässt, ist unklar. Das macht Karlsson später im Resümee selbst deutlich, indem er eine systematische Untersuchung der Zeitung im chronologischen Längsschnitt anregt.

Das Kapitel "Koloniale Begegnungen" besteht aus Einzelbiographien, daneben bietet ein Unterkapitel einen Überblick zu Soldaten aus Viersen in kolonialen Kontexten. Es ragt die Biographie des Kolonialbeamten und -malers Heinrich Mostertz (1884-1975) heraus, der bis 1918 in Deutsch-Ostafrika tätig war, dann ab den späten 1920er-Jahren wieder nach Ostafrika ging und dort ein Kunstatelier einrichtete. [1] Im Zweiten Weltkrieg kehrte er zurück nach Deutschland, seine Kontakte nach Afrika hielt er aber aufrecht; so korrespondierte er bspw. mit Julius Nyerere, dem ersten Präsidenten des unabhängigen Tansanias. In seiner Heimat war er eine Berühmtheit, Artefakte und Bilder von ihm finden sich in Viersen, aber auch an vielen weiteren Orten, zum Beispiel dem Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum.

Erinnerungen und Bezüge im Viersen der jüngsten Zeit werden im letzten Hauptkapitel thematisiert. Sie reichen von Möbeln im Kolonialstil über Straßennamen bis hin zu verschiedenen Kooperationsprojekten mit Afrika. Karlsson zeigt dabei durchaus auch kritische Reflektionen des Kolonialismus in Viersen auf.

Im abschließenden Resümee, das in weiten Teilen vor allem zusammenfassenden Charakter hat, macht Karlsson noch einmal deutlich, dass es ihm um das "Aufdecken" von "Verbindungen, Verflechtungen und Erinnerungen an die [sic!] Kolonialzeitalter am Beispiel der Stadt Viersen" (105) geht. Hier dürfte der Autor offensiver formulieren und eine über die reine Beispielhaftigkeit hinausgehende Perspektive entwickeln. Genauer gesagt bietet er das sogar, indem er deutlich macht, dass die Übernahme trennscharfer Kategorien aus der Forschung zu Großstädten bei seinem Beispiel nur bedingt trägt, da die Verflechtungen dominieren.

Die Arbeit ist formal sauber, sprachlich gelungen, die wenigen Tippfehler fallen nicht ins Gewicht. Karlsson argumentiert differenziert und nuancenreich. Er hat insgesamt eine wertvolle und anregende Studie vorgelegt, die einen bisher kaum unter postkolonialer Perspektive untersuchten Raum behandelt. Damit sollte sie sich als vielfach anschlussfähig erweisen.


Anmerkung:

[1] Zu Mostertz hat Karlsson jüngst einen längeren Beitrag vorgelegt. Vgl. Björn Karlsson: Das Leben des Heinrich Mostertz aus Dülken als "Bwana Mustas" in Ostafrika, in: Marianne Bechhaus-Gester / Fabian Fechner / Stefanie Michels (Hgg.): Nordrhein-Westfalen und der Imperialismus, Berlin 2022, S. 316-331.

Rezension über:

Björn Karlsson: Koloniale Spuren am Niederrhein. Verbindungen, Verflechtungen und Erinnerungen an das Kolonialzeitalter am Beispiel der Stadt Viersen (= Europa - Übersee. Historische Studien; Bd. 23), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2021, 126 S., ISBN 978-3-643-15016-5, EUR 29,90

Rezension von:
Dennis Schmidt
FernUniversität Hagen
Empfohlene Zitierweise:
Dennis Schmidt: Rezension von: Björn Karlsson: Koloniale Spuren am Niederrhein. Verbindungen, Verflechtungen und Erinnerungen an das Kolonialzeitalter am Beispiel der Stadt Viersen, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de/2023/02/37928.html


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