Die historische Katastrophenforschung erfreut sich gerade auch in den Altertumswissenschaften anhaltenden Interesses. Dies zeigt auch der vorliegende, auf einer Konferenz des Jahres 2015 beruhende Band. Bei seinem Zugriff auf das Thema ist der Sammelband in mehrerlei Hinsicht spezifisch ausgerichtet: Im Zentrum stehen städtische Desaster in römischer Zeit. Ferner wird nicht nur ein bestimmter Typ von Katastrophen - etwa sog. Naturkatastrophen - untersucht, sondern ein breites Katastrophenverständnis zugrunde gelegt, denn "existential threats to the ancient city took many forms", u.a. von militärischer Einnahme über Brände und Hochwasser bis hin zu eher schleichenden, aber tiefgreifenden politischen Umwälzungen (1). Schließlich geht es nicht um die empirische Erfassung und Analyse von Desastern sowie ihrer materiellen Folgen, sondern um deren Wahrnehmung und Deutung, um literarisch-rhetorische Bezugnahmen. Diese Zielsetzung sowie der Aufbau des Bandes werden in einer relativ knappen Einleitung dargelegt (1-13), ehe die zehn Beiträge in drei Sektionen präsentiert werden. Der erste Abschnitt ist dem literarischen Urbs-capta-Motiv - seit Homers Beschreibung des Falls von Troja eine Art literarisches Urmotiv der Antike (vgl. 3) - gewidmet, der zweite behandelt Ursachen städtischer Katastrophen, im dritten geht es um die Erinnerung an Desaster. Nachfolgend kann nur ein Teil der Beiträge vorgestellt werden.
In der ersten Sektion geht Jacques Bromberg der Darstellung des Vesuvausbruchs beim jüngeren Plinius nach (49ff.). Dass Plinius in diesen Briefen (epist. 6,16; 6,20) seinen Onkel als Vorbild und sich als gebührenden Erben präsentiert, ist nicht neu. Bromberg arbeitet aber eine homerische Prägung heraus, indem Plinius seine Darstellung an den Schilderungen des Odysseus und des Telemachos orientiert. In der Selbststilisierung als geeigneter Erbe scheint zudem ein Lob der Adoption als Prinzip der Nachfolgerauswahl auf, womit Plinius seinen kaiserlichen Gönner Traian preist. Wenn Bromberg dies als Lob für "the model of adoptive imperial succession established by Nerva" (69) deutet, verkennt er allerdings, dass das Adoptivkaisertum des zweiten Jahrhunderts eher dynastischen Zufällen denn Kalkül folgte. Irritierenderweise greift Bromberg nirgends ausdrücklich das Urbs-capta-Motiv auf. Besonders bei ihm fällt zudem ins Auge, was den gesamten Band durchzieht: Deutschsprachige Forschungsbeiträge werden nur sehr punktuell rezipiert. [1]
Im zweiten Abschnitt analysiert Jessica H. Clark die Triumphzüge des Pompeius und die zugehörigen Siegesmonumente als schleichende politische Katastrophe (93ff.). Die Monopolisierung bestimmter militärischer und politischer Leistungen jenseits der Konkurrenzfähigkeit der Standesgenossen war ebenso prägend für den augusteischen Prinzipat wie "the destruction that adhered to every successful commander's return" (95), sprich: die Stilisierung des Einzelnen zum Retter und Wiederhersteller des gebeutelten Gemeinwesens.
Im letzten Abschnitt greift Virginia Closs mit dem Brand Roms von 64 ein Thema auf, das sie auch monographisch ausführlich bearbeitet hat (155ff.). [2] Zu Recht untersucht Closs nicht, ob Nero wirklich während des Brandes den Untergang Trojas besungen hat, sondern warum die Geschichte glaubhaft war. Anschaulich legt sie dar, dass es historische und biographische Präfigurationen [3] gab, für die der historische Nero nichts konnte, die aber den "Nero of legend" (166) konturierten: etwa die Präsentation des jungen Nero just bei den Troja-Spielen des Claudius und eine Senatsrede im Jahre 53 zugunsten Ilions. Nicht zuletzt stellte Neros Troja-Gesang eine negative Spiegelung der Betonung der trojanischen Wurzeln Roms dar, wie sie in augusteischer Zeit prominent proklamiert wurde. Wenn man so will, fiel Nero sein agonaler Ansatz, sich mit historischen und mythischen Vorbildern zu vergleichen, auf die Füße. Leider vermisst man einige Literaturtitel, die Closs produktiv hätte heranziehen können. [4] Ferner erkennt Closs in Sen. epist. 14,91, der oberflächlich den Brand Lugdunums thematisiert, der kurz nach dem Brand Roms stattfand, eine indirekte Abhandlung über Nero und den Brand Roms. Das entspricht der Einsicht, dass auch das Erdbebenbuch der Naturales quaestiones verklausulierte Zeitkritik enthielt. [5]
Einen besonderen, epochenübergreifenden Ansatz wählt Joseph Farrell, der die "sacks of Rome" von 390 v.Chr. bis zum Jahr 2017 (sic!) untersucht (201ff.). Den Galliersturm von 390 v. Chr. mit dem Wüten von Hooligans zu vergleichen, mag absurd erscheinen. Genau dies hat aber ein Presseartikel getan (vgl. 201, Anm. 2). So ist Farrells Gedanke überzeugend, "that every individual event or metaphorical comparison involving 'the sack of Rome' draws part of its meaning from that idea, but also contributes to it" (201, Hervorh. im Orig.) - die Einnahme Roms als anhaltende, sich reproduzierende Denkfigur in Geschichte, Presse, Literatur und Filmen. Gerade darum verwundert das Fehlen von Felix Dahns Ein Kampf um Rom von 1876. Und um das mediale Spektrum zu erweitern, hätte beispielsweise noch der Titel The Last Stand der Heavy-Metal-Band Sabaton einbezogen werden können, der vom sacco di Roma 1527 handelt.
Leider enthält der Band keinen Beitrag der Mitherausgeberin Elizabeth Keitel. Das ist wegen ihrer fachlichen Eignung schade, aber auch weil dem Band mit seinen "nur" zehn Studien etwas der Gegenstand ausfranst, und zwar umso mehr, als die Zuordnung einzelner Beiträge zu den drei Sektionen des Buches nicht völlig überzeugt: Hätte Farrells Studie nicht besser in den Abschnitt über die urbs capta gepasst als jene Brombergs? [6] Den Herausgeberinnen ist das Problem bewusst, denn sie bemerken, dass "[e]ach of the categories listed above bleeds into the others to a certain extent" (11), und sie versuchen daher, weitere "threads" (ebd.) zwischen den Beiträgen zu knüpfen. Dennoch wirken die "select facets" (ebd.) des Themas etwas willkürlich gewählt. Das tut der Qualität der Einzelbeiträge aber keinen Abbruch: Sie lassen sich anregend und gewinnbringend lesen.
Anmerkungen:
[1] Zum Vesuvausbruch vermisst man: Mischa Meier: Eine fast verschlafene Katastrophe oder der Untergang eines 'Sodom und Gomorrha'? Der Ausbruch des Vesuv im Jahre 79, in: Gerrit Jasper Schenk (Hrsg.): Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel. Ostfildern 2009, 20-36; zu Plinius: Sven Page: Der ideale Aristokrat. Plinius der Jüngere und das Sozialprofil der Senatoren in der Kaiserzeit, Heidelberg 2015.
[2] Virginia Closs: While Rome burned. Fire, Leadership, and Urban Disaster in the Roman Cultural Imagination, Ann Arbor 2020.
[3] Hans Blumenberg: Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos, Berlin 2014.
[4] Z.B. Philipp Deeg: Nero und die Erdbeben. Was der kaiserliche Umgang mit Desastern über die Herrschaftsauffassung verraten kann, in: Jonas Borsch/Laura Carrara (Hrsg.): Erdbeben in der Antike. Tübingen 2016, 153-171; Egon Flaig: Wie Kaiser Nero die Akzeptanz bei der Plebs urbana verlor. Eine Fallstudie zum politischen Gerücht im Prinzipat, in: Historia 52 (2003), 351-372; Mischa Meier: "Qualis artifex pereo". Neros letzte Reise, in: HZ 286 (2008), 561-603; Tassilo Schmitt: Des Kaisers Inszenierung. Mythologie und neronische Christenverfolgung, in: ZAC 16 (2012), 487-515.
[5] So Bardo Maria Gauly: Senecas Naturales Quaestiones. Naturphilosophie für die römische Kaiserzeit, München 2004, 224-235, den Closs leider nicht heranzieht.
[6] So bereits Saskia Kerschbaum, BMCR 2021.05.28, Anm. 4.
Virginia M. Closs / Elizabeth Keitel (eds.): Urban Disasters and the Roman Imagination (= Trends in Classics - Supplementary Volumes; Vol. 104), Berlin: De Gruyter 2020, XII + 286 S., 27 Abb., ISBN 978-3-11-067469-9, EUR 129,95
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