Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) hätte auch bei diesem Thema Geschichte schreiben können. Hans Buchheim, in den 1950er und 1960er Jahren einer seiner einflussreichsten Mitarbeiter, legte nämlich 1958 mehrere Gutachten vor, die sowohl die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als auch den Kenntnisstand der breiten Öffentlichkeit über das Schicksal der Sinti und Roma im Nationalsozialismus auf den Kopf stellten. Die "Zigeuner" seien im "Dritten Reich" aus "rassischen Gründen" verfolgt und deportiert worden, betonte Buchheim, während bis dahin solche Motive fast unisono geleugnet worden waren. "Zigeuner", so hieß es beispielsweise in der Zeitschrift Kriminalistik, seien "wegen ihrer teils asozialen, teils kriminellen Lebensweise als polizeiliche Vorbeugungshäftlinge in KZ-Haft genommen worden" - also völlig zurecht.
Der Weckruf aus dem IfZ drang nicht durch. Auch Buchheim selbst tat nicht genug, um sich Gehör zu verschaffen. Die eng mit dem IfZ verbundenen Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte publizierten 1959 sogar einen Aufsatz aus der Feder von Hans-Joachim Döring, der Buchheims Thesen widersprach und dabei nicht nur die kriminalpräventiven Motive bei der Verfolgung der Sinti und Roma erneut in den Vordergrund stellte, sondern auch Robert Ritter und dessen 'Rassenhygienische Forschungsstelle' am Reichgesundheitsamt bei der 'rassischen' Klassifizierung und Deportation der "Zigeuner" entlastete. Danach verschwand das Thema so gut wie komplett von der Publikations- und Forschungsagenda des IfZ.
Umso höher ist es Redaktion und Herausgebern der renommierten Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte anzurechnen, dass sie die an der Humboldt-Universität zu Berlin entstandene Dissertation von Sebastian Lotto-Kusche in ihr Programm aufgenommen und damit auch die Geschichte des IfZ der Kritik ausgesetzt haben. Lotto-Kusche geht es nicht um den Völkermord an den Sinti und Roma an sich, der mittlerweile gut erforscht ist. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf den "langen Weg", der zurückgelegt werden musste, ehe es 1982 zur Anerkennung des Genozids durch Bundeskanzler Helmut Schmidt und zur öffentlichen Akzeptanz der Leidensgeschichte der Sinti und Roma kam.
Der gut durchdachte Aufbau der Studie spiegelt die Etappen dieses langwierigen Prozesses wider. Bis weit in die 1960er Jahre gab es nur wenige, die Sinti und Roma als Opfer des Nationalsozialismus betrachteten. In der Politik, unter Juristen und Polizisten und in der Presse dominierte ein kriminalpräventiver Denkstil, wie Lotto-Kusche diese Form der realitätsblinden Ignoranz treffend nennt. Erst in den 1970er Jahren erodierten die daraus resultierenden Meinungsbilder und die personellen Netzwerke dahinter, die ihre Wurzeln mitunter noch im Nationalsozialismus hatten. Entscheidend dafür waren der gesellschaftliche Wandel mit seinen generationellen Umbrüchen, Impulse vom europäischen Ausland, Fortschritte in Forschung und Lehre und nicht zuletzt 1982 die Bildung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, der seitdem dafür sorgt, dass deren Forderungen nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden. Der kriminalpräventive Denkstil musste in den 1980er Jahren einem (leider nicht näher definierten) genozidkritischen Denkstil weichen, womit der Weg frei wurde für eine offenere Debatte, deren Ergebnisse etwa im Hinblick auf die Zahl der Opfer (500.000 oder weniger) auch dem Zentralrat nicht immer behagen.
Vieles von dem, was Lotto-Kusches Studie bietet, ist nicht ganz unbekannt. Vor allem die Arbeiten von Daniela Gress haben bereits manches vorweggenommen. Neu und eindrucksvoll ist die Darstellung der Geschichte der historischen Forschung in den beiden deutschen Staaten, die sich dem Thema lange verschloss und Mühe hatte, den Anschluss an den internationalen Diskurs zu finden. Lotto-Kusche würdigt dabei völlig zurecht die wichtige Rolle von Michael Zimmermann, dessen wegweisenden Studien und intellektuellen Impulsen die deutsche Sinti und Roma-Forschung viel verdankt.
Ähnlich groß ist der Neuigkeitswert dort, wo Lotto-Kusche die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse in der großen Politik unter die Lupe nimmt, die der Anerkennung des Völkermords und der Akkreditierung des Zentralrats als Interessenvertretung der Sinti und Roma vorausgingen, wobei man sich unter solchen Verständigungsprozessen in Parteien und Ministerien aber kein allzu komplexes Verfahren mit vielen Beteiligten vorstellen sollte. In der Regel waren es anscheinend einzelne Beamte und Politiker, die sich den Anliegen der Sinti und Roma öffneten oder diese - was öfter geschah - blockierten. Der geschichtsbewusste Gustav Heinemann, Bundespräsident von 1969 bis 1974, war einer der ersten, die das Thema aufgriffen und immer wieder nachhakten und so halfen, manche Blockade zu lösen.
Lotto-Kusche lässt dabei nicht unerwähnt, dass hier noch großer Forschungsbedarf besteht - namentlich mit Blick auf die Parteien und deren Sinti und Roma-Politik ist noch viel zu tun. Lohnend wäre auch, den Fokus auf einzelne Bundesländer zu richten und den internen Debatten der Sinti und Roma selbst mehr Raum zu widmen, die nur allzu oft als Objekte der Politik erscheinen. Lotto-Kusche hat dafür und für anders gelagerte Forschungsvorhaben in zweierlei Hinsicht den Rahmen abgesteckt. Zum einen durch eine verdienstvolle Bibliografie, die mit ihren über 30 Seiten noch den entlegensten Aufsatz enthält, und zum anderen durch eine ambitionierte "Einleitung und Hinführung", die interessierte Laien als schwer atmendes Traktat ohne engeren Bezug zum Hauptteil betrachten mögen und überblättern werden, während Fachleute sie als eine wahre Fundgrube schätzen dürften - für Fingerzeige auf Forschungsdefizite, für methodische Reflexionen auf hohem Niveau und für viele Denkanstöße, die weit über den Gegenstand der Studie hinausweisen.
Sebastian Lotto-Kusche: Der Völkermord an den Sinti und Roma und die Bundesrepublik. Der lange Weg zur Anerkennung 1949-1990 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 125), Berlin: De Gruyter 2022, VIII + 264 S., ISBN 978-3-11-077402-3, EUR 24,95
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