Leichenpredigten bilden eine spezielle Gattung von Personalschriften, die im ausgehenden 16. Jahrhundert beginnend bis etwa in die Mitte des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum eine weite Verbreitung fanden, aber ein dezidiert dem Protestantismus zuzuordnendes Phänomen darstellen. Die Begräbnisrede eines Pfarrers für eine/n Verstorbene/n als der Kern dieser gedruckten Schriften wurde erweitert und ergänzt durch andere Textbestandteile, sodass sich neben dem zunehmenden Umfang auch eine feste Textstruktur ausbildete. Leichenpredigten als Trauer- und Trostschriften für die Hinterbliebenen sind zugleich multifunktionale Zeugnisse einer Erinnerungskultur, wie sie von den gehobenen Schichten der Gesellschaft praktiziert wurde und auf diese beschränkt blieb. Auch für medizinhistorische Fragestellungen sind diese Texte aufschlussreiche Quellen, beinhalten sie doch in aller Regel mehr oder weniger detaillierte Angaben zur Krankengeschichte eines Patienten oder einer Patientin, insbesondere über deren letzte Krankheit, der sie schließlich erlagen.
Grundlage der Studie Dellmanns ist das beachtlich umfangreiche Konvolut von 505 Leichenpredigten, das als digitalisierte Teilmenge der insgesamt etwa 4000 Leichenpredigten umfassenden Sammlung der ehemaligen Stadtbibliothek Breslau eine "zufällige Stichprobe" (17) darstellt. Die Texte wurden zwischen 1562 und 1753 gedruckt, wobei ein deutlicher Schwerpunkt (über 50%) in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts liegt. Die Bearbeitung des Materials steht unter der innovativen Fragestellung, ob und inwieweit diese Quellen Hinweise auf palliativmedizinische Ansätze in der praktischen medizinischen und pflegerischen Betreuung der betroffenen Patienten enthalten. Die Autorin legt einen besonderen Fokus auf die in vielen dieser Texte "oftmals klar abgegrenzte[n] und als solche titulierte[n] Sterbeberichte" (40), begreift Palliativmedizin allerdings nicht nur als Sterbebegleitung im engeren Sinne, sondern erfasst alle Maßnahmen, die nicht mehr einer kurativen Intention folgen, sondern nurmehr auf die Linderung von Symptomen zielen.
Zunächst werden der Forschungsstand hinsichtlich der Analyse von Leichenpredigten mit medizinhistorischem Erkenntnisinteresse skizziert und die ebenfalls als Dissertationen angefertigten Studien angeführt, die unterschiedlich umfangreiche Samples von Leichenpredigten untersucht haben, um Erkenntnisse über die Erkrankungen zu gewinnen und Aussagen über den Grad der Medikalisierung sowie die eingesetzten Therapiemaßnahmen und Heilmittel treffen zu können.
Zum Forschungsstand zur Geschichte der Palliativmedizin ist die nahezu ausschließliche Referenz die gleichnamige Studie von M. Stolberg (2. Aufl. 2013). Auch diese der eigenen Arbeit quasi isoliert vorgeschaltete Skizze, die noch dazu als "Einführung in den medizinhistorischen Kontext" gedacht ist, jedoch auf weniger als zwei Seiten etwa die Situation der frühneuzeitlichen Ärzte zu charakterisieren sucht [1], ist allzu oberflächlich geraten, um als tragfähiger Rahmen zur Deutung eigener Ergebnisse dienen zu können.
Dellmann differenziert ihre Darstellung nach quantitativen und qualitativen Ergebnissen. Die statistische Bestandsaufnahme ergibt für Frauen, die in dieser Stichprobe mit 38% vergleichsweise stark repräsentiert sind, ein im Betrachtungszeitraum leicht ansteigendes Lebensalter von durchschnittlich 39 Jahren. Dem steht ein durchschnittliches Lebensalter bei Männern von knapp 47 Jahren gegenüber, das im Zeitverlauf zudem größere Schwankungen aufweist. Konsultationen akademischer Ärzte während der letzten Krankheit werden in 43% der Leichenpredigten erwähnt, mit einem Mittelwert von 44% bei männlichen Patienten, bei Frauen geringfügig darunter. Es wird die Häufigkeit der von Ärzten verordneten oder angewandten Medikamente erfasst. Präzisere Angaben begegnen nur selten, vielmehr finden sich Hinweise auf Indikations- und Wirkungsweisen. Hausmittel und andere Maßnahmen, die die Autorin in Verbindung mit Laienbehandlung sieht, werden signifikant häufiger bei Frauen (42%) als bei Männern (30%) erwähnt. Zahlreiche Beispiele für durch Laien durchgeführte Maßnahmen trägt Dellmann tabellenartig zusammen und sucht sie in Kategorien zu sortieren ("gegen Schlaganfälle", "zur Stärkung", "diätetische Maßnahmen", wobei letztere eher dem Prinzip des contraria contrariis curantur zu folgen als der Diätetik verpflichtet zu sein scheinen). Eine Übersicht über Form und Ausprägungen der letzten Krankheiten, etwa nach akuten und chronischen Leiden sowie deren Dauer unterschieden, fehlt.
In der qualitativen Auswertung des Breslauer Katalogs der Leichenpredigten erweist sich die Heilung als primäres Therapieziel. Im Verlauf der Krankheit musste der kurative Anspruch gegebenenfalls aufgegeben werden zugunsten eines Funktionserhalts, zum Beispiel der Arbeitsfähigkeit eines Predigers, oder, um Symptome und Beschwerden zu lindern. Bemerkenswert erscheinen einzelne Fälle von Therapieverweigerung vorzugsweise weiblicher Kranker. Dellmann konnte 14 Fälle ärztlicher Sterbebegleitung herausfiltern, die eigens angeführt werden, um im Ergebnis festzustellen, dass die Ärzte sich durchaus unterschiedlich verhielten und eine mehr oder weniger aktive Rolle einnahmen (83). Insgesamt hat die Untersuchung nur "wenig explizit palliativmedizinisches Gedankengut in den Leichenpredigten" (114) ergeben; es ließen sich "in Einzelfällen einige Hinweise" (120) finden. Abschließend widmet sich die Autorin den besonderen Gegebenheiten der Quellengattung, die als von Predigern und medizinischen Laien verfasste Texte Einschränkungen in der Aussagekraft hinsichtlich palliativmedizinischer Bezüge bedeuten.
In der Tat müssen die Grenzen der Leichenpredigten für medizinhistorische Fragestellungen erkannt und berücksichtigt werden, allerdings wurden die Chancen dieser Texte hier nicht annähernd ausgeschöpft. Der christlich-protestantische Glaubenskontext wäre mit einzubeziehen gewesen, um die frühneuzeitliche Deutung und Sinngebung körperlicher Leiden zu erfassen und auch in ihren Konsequenzen zu berücksichtigen. Die Frage nach der Interaktion zwischen medizinischem und geistlichem Personal wird nicht gestellt. Hinzu kommt die ausgesprochen unvorteilhafte Organisation der Darstellung mit ihrer geradezu notorischen Fragmentierung einzelner Leichenpredigten, um sie unter verschiedenen Aspekten anzuführen. So werden mehrfach gleiche Passagen zitiert und in der Auswertung nochmals paraphrasiert. Eine Fokussierung auf exemplarische Analysen mit differenzierterer Kontextualisierung hätte weiterführende Erkenntnisse ermöglicht.
An die auf 120 Seiten begrenzte Darstellung schließt sich ein Quellenverzeichnis des Breslauer Katalogs an, aus dem mit fortlaufender Signatur das Alter der Verstorbenen sowie der Beruf (des Ehemanns) ersichtlich sind (125-190). Dann folgen Auszüge aus den Leichenpredigten mit Schilderungen des Krankheitsverlaufs und der medizinischen Maßnahmen (191-399). Diese Aufbereitung des Materials ist sehr verdienstvoll und kann als Orientierung für weitergehende Studien dienen.
Anmerkung:
[1] Hier wäre hilfreich gewesen Wolfgang U. Eckart: "Medicus Politicus" oder "Machiavellus Medicus"? Wechselwirkungen von Ideal und Realität des Arzttypus im 17. Jahrhundert, in: Medizinhistorisches Journal, Bd. 19, 1984, H. 3, 210-224.
Charlotte Dellmann: Ärzte am Sterbebett? Palliativmedizinische Bezüge in Leichenpredigten der Frühen Neuzeit (= Ars Moriendi Nova; Bd. 4), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 399 S., 4 s/w-Abb., 3 Tbl., ISBN 978-3-515-13346-3, EUR 68,00
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