sehepunkte 23 (2023), Nr. 6

Jakub Hauser / Eva Janáčová (eds.): Visual Antisemitism in Central Europe

Die Geschichte des Antisemitismus in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert war lange Zeit nur ein Randgebiet der Forschung, was mit seiner Tabuisierung in der Epoche des Staatssozialismus zu tun hatte. Die Situation begann sich in den beiden vergangenen Jahrzehnten allmählich zu ändern, wobei der Fokus der Forschung zunächst auf den Jahren des Zweiten Weltkriegs lag. Diese Tendenz hängt sicherlich mit der - mehr oder weniger umstrittenen - Aufnahme des Holocausts ins offizielle nationale Gedächtnis der jeweiligen Länder im Zuge der europäischen Integration zusammen. Während die einzelnen Historiografien das Thema zunehmend für sich entdeckten, mangelt es jedoch nach wie vor an komparativen, die Grenzen nationaler Narrative überschreitenden Ansätzen. Diese Feststellung gilt auch für die zeitliche Abgrenzung, denn die Zeit vor und nach dem Holocaust wird deutlich seltener in den Blick genommen als der Holocaust selbst.

Solche Forschungsdesiderate zumindest teilweise zu beheben, verspricht der Sammelband über den "visuellen Antisemitismus" in Zentraleuropa, der von den tschechischen Kunsthistoriker:innen Jakub Hauser und Eva Janáčová zunächst auf Tschechisch und nun auch auf Englisch herausgegeben worden ist. Er geht auf eine Tagung vom Oktober 2019 zurück, auf der neben Beiträgen zur tschechischen auch solche zur österreichischen, ungarischen und polnischen Geschichte diskutiert wurden.

Wie schon der Titel andeutet, wird hier mit einem kulturgeschichtlichen Zugang der moderne Antisemitismus (und in einem Fall auch der christliche Antijudaismus) anhand seiner visuellen Äußerungen im ostmitteleuropäischen Kontext ganz überwiegend seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart untersucht. Die große Mehrheit der Beiträge fokussiert auf die böhmischen Länder und hier insbesondere auf das wichtige Medium der politischen Karikatur.

Der kurzen Einleitung folgen Jan Dienstbiers Abhandlung über das Motiv der "Judensau" in der böhmischen bildenden Kunst seit dem Spätmittelalter beziehungsweise drei Studien zum ausgehenden 19. Jahrhundert. Daniel Véri widmet sich der Ausbreitung des "sozialen Wissens" über die moderne Ritualmord-Beschuldigung im Kontext der Affäre im ungarischen Tiszaeszlár von 1883, als die Anschuldigung gegen mehrere Juden, ein christliches Mädchen zu "rituellen Zwecken" umgebracht zu haben, in eine landesweite Kampagne gegen die Judenemanzipation ausuferte. Die Kampagne hatte neben der musikalischen auch eine visuelle Dimension, wie etwa das berüchtigte Gemälde des Pseudo-Munkácsy (ein unbekannter Zeitgenosse des ungarischen Malers Mihály von Munkácsy) "Der Ritualmord" belegt, das 1896 in Paris ausgestellt wurde. Die beiden nächsten Beiträge widmen sich dem böhmischen Kontext: Während Janáčová Postkarten und andere Artefakte aus Karlsbad avisiert, beschäftigt sich Michal Frankl mit antisemitischen Karikaturen in der bürgerlichen Illustrierten Humoristické listy (Humoristische Blätter). Deren weitere Entwicklung in der Ersten Tschechoslowakischen Republik verfolgt Hauser in seinem Beitrag. Eine parallele, aufmerksame Lektüre ihres österreichischen Pendants Die Muskete bietet für die Zwischenkriegszeit Julia Secklehner. Petr Karlíček nimmt die Radikalisierung der tschechischen antisemitischen Karikatur im Protektorat Böhmen und Mähren näher in den Blick, während Blanka Soukupová deren weitere Geschichte in der sozialistischen Tschechoslowakei Revue passieren lässt. Die Zeit des Nationalsozialismus behandelt auch Daniel Uziel in seinem Beitrag über die visuelle Propaganda der Wehrmacht beim Polenfeldzug. Einen Bezug zur Gegenwart bietet Zbyněk Tarants Studie zu visuellen antijüdischen Stereotypen in der heutigen tschechischen Öffentlichkeit und speziell bei rechtsradikalen Gruppierungen. Den Abschluss bildet Iwona Kurz' anregende Untersuchung über die Instrumentalisierung von images des Holocaust im Kontext der Flüchtlingskrise von 2015.

Bereits bei dieser kurzen inhaltlichen Zusammenfassung fällt auf, dass in dem Band dem tschechischen Kontext die Rolle eines Musterbeispiels für "visuellen Antisemitismus" in Zentraleuropa zugefallen ist. Dadurch geraten gewisse Besonderheiten in den Blickpunkt, die - ähnlich wie die Konzentrierung auf die politische Karikatur - es verdient gehabt hätten, in der Einleitung näher betrachtet zu werden, wird doch in der älteren Forschung zumindest die Erste Tschechoslowakische Republik als relativ resistent dem Antisemitismus gegenüber dargestellt. Gilt dies auch für die Zeit davor und danach, wie Janáčová (96) und Karlíček (200, vergleiche auch die Einleitung, IX) nahezulegen scheinen? Und inwiefern kann die Analyse gerade des "visuellen Antisemitismus" eine solche Annahme bekräftigen? Die Beiträge von Frankl und Soukupová suggerieren eher das Gegenteil, wobei insbesondere das Nachwirken des politischen Antisemitismus auch in der politischen Karikatur der sozialistischen Tschechoslowakei überraschen mag. Hier fehlen jedoch sowohl die Kontextualisierung in Bezug auf andere sozialistische Länder Ostmitteleuropas als auch Hinweise auf die Tradition des sogenannten Antisemitismus von links.

In der Einleitung werden solche Fragen nicht aufgeworfen, und genauso wenig wird das Besondere am "visuellen Antisemitismus" beleuchtet. Man erfährt weder etwas zum Forschungsstand - beziehungsweise erst später, in Frankls Beitrag -, noch wird die Typologie antisemitischer Feindbilder ausführlich behandelt: Es wird lediglich zwischen traditionellem Antijudaismus und modernem Antisemitismus (VII) beziehungsweise - bei Janáčová - dem Stereotyp des assimilierten jüdischen Kapitalisten und dem des infamen "Ostjuden" unterschieden. So müssen die Leser:innen ihre Schlussfolgerungen selbst ziehen, da es auch keine Schlussbetrachtung gibt, in der auf wichtige Erkenntnisse für die Antisemitismusforschung als solche und vor allem mit Hinblick auf die visuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus hätte aufmerksam gemacht werden können.

Solche Erkenntnisse bietet etwa der Ansatz Frankls, der vorschlägt, bei der Betrachtung des antisemitischen Blicks neben den Feindbildern auch die Selbstbilder von Antisemiten mit einzubeziehen; konkret wird danach gefragt, wie der Antisemitismus diesen dabei helfen sollte, den gutbürgerlichen "nationalen Raum" für sich zu reklamieren. In vergleichender Hinsicht stechen die Beiträge Secklehners und Hausers hervor: Aus diesen erschließt sich, dass zwischen den Weltkriegen sowohl in der Republik Österreich als auch in der Tschechoslowakei ähnliche Tendenzen zum bürgerlichen "moderaten Antisemitismus" zu beobachten waren, der die Grenze zum offenen Hass nicht zu überschreiten wagte und sich stattdessen mit Anspielungen begnügte - im Fall der Muskete allerdings stärker als bei den Humoristické listy. Auch hier wäre freilich eine Kontextualisierung angebracht gewesen, denn ähnliche Tendenzen zur "Mäßigung" sind auch in anderen Kontexten zu beobachten. [1]

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der vorliegende Sammelband eine erste Lücke in der Erforschung eines wichtigen Teilaspekts der Geschichte des modernen Antisemitismus in Zentral- und Ostmitteleuropa schließen kann und zur weiteren Forschung anregen sollte - diese Ambition geben die Herausgeber in aller Bescheidenheit auch zu (VIII). Als möglicher Ansatz wäre hier nicht zuletzt die Emotionsgeschichte zu nennen, die sich ebenfalls mit visuellen Quellen beschäftigt, die Aufschluss über negative Emotionen wie Hass und Ekel geben. [2] Dazu liefern viele Beiträge des besprochenen Bandes reichlich Material - großteils in Farbe und hoher Auflösung.


Anmerkungen:

[1] Miroslav Szabó: Populist Antisemitism. On Theory and Methodology of Research into Modern Antisemitism, in: Judaica Bohemiae 49 (2014), 2, 73-88.

[2] Uffa Jensen: Zornpolitik. Frankfurt am Main 2017, 58ff.

Rezension über:

Jakub Hauser / Eva Janáčová (eds.): Visual Antisemitism in Central Europe. Imagery of Hatred, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021, X + 290 S., ISBN 978-3-11-061607-1, EUR 104,95

Rezension von:
Miloslav Szabó
Historický ústav, Slovenskej akadémie vied
Empfohlene Zitierweise:
Miloslav Szabó: Rezension von: Jakub Hauser / Eva Janáčová (eds.): Visual Antisemitism in Central Europe. Imagery of Hatred, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 6 [15.06.2023], URL: https://www.sehepunkte.de/2023/06/38185.html


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