Inzwischen scheint sich nach in extenso und äußerst kontrovers geführten Diskussionen seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als communis opinio herausgebildet zu haben, dass die attische Tragödie des 5. Jahrhunderts eine wie auch immer geartete politische Funktion in der demokratischen Polis ausgeübt habe [1], obwohl es auch noch heute nicht an Gegenstimmen fehlt. [2] In der Forschung wurde zwar immer wieder darauf hingewiesen, dass die demokratischen dramatischen Gattungen auch an anderen Orten außerhalb Athens zur Aufführung kamen und dass athenische Tragiker keine Scheu hatten, am Hofe von Königen oder Tyrannen zu wirken wie Aischylos, der auf Einladung Hierons zwei oder drei Mal Sizilien besuchte und in Hierons Auftrag die Perser wieder aufführte und zur Einweihung der Stadt Aitnai ein Drama verfasste, die Frauen von Aitnai (Aitnaiai) [3], oder Agathon und Euripides, die sich auf Einladung des Makedonenkönigs Archelaos an seinen Hof nach Pella begaben. Euripides verfasste dort nicht nur die Bakchen und die Iphigenie in Aulis, sondern auch den Archelaos, eine den Aitnaiai vergleichbare Auftragsarbeit, mit der Euripides seinem Gastgeber "einen heroischen Ahnen schuf". (A. Lesky: Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 21972, 279)
Die Beispiele zeigen, dass die attischen Tragiker ähnlich wie die Chorlyriker durchaus als Auftragsdichter tätig sein konnten und dass die einladenden Machthaber nicht nur die Auftragsarbeiten, sondern auch die Wiederaufführung von Tragödien als kulturelles Kapital ansahen. Festzuhalten ist, dass ein Drama als eine Gattung, die durch eine Vielzahl von Stimmen der verschiedenen dramatis personae gekennzeichnet ist, an unterschiedlichen Orten zu verschiedenen Zeiten völlig anders aufgefasst werden kann. (vgl. Bowie, 172 zu den euripideischen Phönizierinnen)
Der vorliegende Band widmet sich in verschiedenerlei Hinsicht einem Forschungsdesiderat, indem in den einzelnen Kapiteln der oft engen Beziehung zwischen Tragödie und Autokraten nachgegangen wird. Unter dem Begriff 'autocracy' subsumieren die Autoren jeden Typ von Alleinherrschaft, also "kings, tyrants, generalissimos, and emperors" (1). Er steht in einer Reihe neuerer Publikationen, die das attische Drama als kulturelles Exportgut und die Wege und Institutionen der Verbreitung dieses Exportschlagers in der griechisch-römischen Welt untersuchen. [4] Schließlich betonen die Herausgeber zu Recht (6-13) die Kontinuität der Gattungsgeschichte und weisen die in Aristophanes' Fröschen (405 v.Chr.) zum Ausdruck gebrachte 'Dekadenztheorie' entschieden zurück, nach der nach dem Tod der tragischen Trias Aischylos, Sophokles und Euripides die Gattung Tragödie am Ende sei (Vers 72: "Die guten Dichter sind tot, und die Lebenden einfach schlecht").
Der erste Teil des Bandes widmet sich nach einleitenden, lesenswerten Ausführungen von E. Csapo und P. Wilson (17-35) der für die Verbreitung des Dramas im Mittelmeerraum wichtigen Institution der Dionysostechniten (Le Guen, 37-53) und untersucht in zwei Fallstudien den Theaterbau Hierons II. (reg. 269-215) in Syrakus (de Lisle, 55-69) und das nachklassische Satyrspiel (Touyz, 71-84). Im zweiten Teil werden Aspekte des römischen Theaterbetriebs besprochen: griechischsprachige Theateraufführungen in der römischen Welt (Paillard, 87-103, mit nützlicher Zusammenstellung und Besprechung der Testimonien), die Theaterpolitik der Kaiser von Augustus bis Marc Aurel (Skotheim, 117-126; Garelli, 105-116, mit Blick auf die neuen dramatischen Formen Mimus und Pantomimus), das Theater von Paphos als Fallstudie für die antoninische Zeit (Green, 127-147), die Porträts der tragischen Trias und Menanders, die weniger über die Rezeption und Kenntnis der Autoren in der Kaiserzeit als über den elitären Anspruch der Besitzer aussagen (Goette, 149-162), und die Bezugnahme auf die klassische Tragödie in der Kaiserzeit (Bowie, 163-180, mit äußerst nützlichen Appendices zu den Euripides-Papyri und den Tragikerzitaten). Im abschließenden dritten Teil untersucht L. Athanassaki die Darstellung des Theseus und seiner Nachkommen im Unterschied zu den attischen Urkönigen Erechtheus und Ion (183-198). S. Perris bespricht oligarchische Bezüge in Sophokles, Trachinierinnen, Aischylos, Eumeniden, Euripides, Ion, und in einer Reihe von weiteren euripideischen Stücken und Fragmenten sowie in Kritias (199-217), und R. Cowan arbeitet die politischen Bezüge von Varius' Thyestes nach Augustus' Sieg bei Actium über Antonius heraus (220-228).
Der vorliegende Band greift ein Thema auf, das in den letzten Jahren immer mehr im Fokus des historischen und philologisch-literaturwissenschaftlichen Interesses stand: die politische, ideologische Funktion einer literarischen Gattung in unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten. Er weist aber leider auch die Defizite einer aus einer Tagung hervorgegangenen Publikation auf, der nicht alle Referentinnen und Referenten ihre Beiträge zur Verfügung stellten (vgl. Preface). So werden unter einer präzisen methodischen Fragestellung schlaglichtartig einige Bereiche beleuchtet, anderes bleibt für künftige Arbeiten unbehandelt.
Anmerkungen:
[1] Forschungsüberblick bei B. Zimmermann: Handbuch der griechischen Literatur der Antike. München 2011, 490f.
[2] J. Griffin: The Social Function of Attic Tragedy, in CQ 48 (1998) 39-61; P. Rhodes: Nothing to Do with Democracy. Athenian Drama and the Polis, in JHS 123 (2003), 104-119.
[3] B. Zimmermann: Aischylos in Sizilien, in: M. Giordano/M. Napolitano (Hgg.): La città, la parola, la scena: nuove ricerche su Eschilo. Roma 2019, 255-272.
[4] K. Bosher (Hg.): Theater outside Athens. Drama in Greek Sicily and South Italy. Cambridge 2012; E. Stewart: Greek Tragedy on the Move. The Birth of a Panhellenic Art Form c. 500-300 BC, Oxford 2017.
Eric Csapo / Hans Rupprecht Goette / J. Richard Green et al. (eds.): Theatre and autocracy in the ancient world, Berlin: De Gruyter 2022, 280 S., 38 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-079596-7, EUR 89,95
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