War das Thema Inklusion in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik lange Zeit nur peripher behandelt worden, sind in der letzten Dekade gleich mehrere Sammelbände und Monographien erschienen, die sich mit den Lehr- und Lernbedürfnissen marginalisierter Gruppen im Geschichtsunterricht beschäftigen. [1]
Während theoretische und pragmatische Überlegungen über eine inklusive Geschichtsdidaktik zunehmend mehr Beachtung finden, fehlt es bis dato aber noch weitestgehend an empirischen Arbeiten, um bisherige Ideen und Annahmen zu validieren bzw. zu erweitern; die wenigen Untersuchungen konzentrieren sich dabei primär auf die Anwendung von Leichter Sprache im Geschichtsunterricht. [2]
Umso erfreulicher ist die Dissertation von Franziska Rein, die sich mit den historischen Sinnbildungsprozessen von Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten beschäftigt hat. [3] Rein geht den Fragen nach, "ob sich die Sinnbildungsprozesse der Forschungsteilnehmer*innen als spezifisch historisch deuten lassen" (15) und inwiefern biografische Erfahrungen dabei als Ausgangspunkt fungieren können. Zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen gliedert Rein ihre Arbeit in vier Kapitel: Nach einer kurzen Einleitung, in der die Autorin überzeugend die Notwendigkeit ihrer Untersuchung herausarbeitet, setzt sie sich in den theoretischen Grundlagen ihrer Studie mit dem historischen Lernen von Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten auseinander, wobei sie explizit an die Theorie einer inklusiven Geschichtsdidaktik nach Bärbel Völkel anschließt. Im Methodenkapitel reflektiert die Autorin einerseits den Einsatz der Repertory Grid Interviews und stellt andererseits die Ergebnisse ihrer Erhebung dar, auf deren Relevanz und Implikationen für die Geschichtsdidaktik im Fazit eingegangen wird. Die Gliederung ist gelungen, wenngleich die Ergebnisse, die in den Methodenteil inkorporiert sind, zur besseren Nachvollziehbarkeit gerne in einem eigenständigen Kapitel hätten behandelt werden können.
In den theoretischen Grundlagen setzt sich Rein zunächst mit der Terminologie ihrer untersuchten Gruppe, die sie mit Bezug auf die Disability Studies nach einem gesellschaftlich-sozial-konstruktivistischen Modell definiert, sowie der bisherigen geschichtsdidaktischen Forschung über Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten auseinander. Im verbleibenden Theorieteil wendet sich Rein dem Konstrukt des Geschichtsbewusstseins zu und bespricht ausführlich dessen Implikationen für die von ihr untersuchten Gruppe. Als problematisch bewertet sie insbesondere den Umstand, dass die Ausrichtung des historischen Lernens "in den grundlegenden Theoriekonzepten [...] dominant mit hochkomplexen kognitiv-sprachlichen Aspekten verbunden" (31) sei und folglich insbesondere Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten marginalisieren würde. Rein folgt in ihren Überlegungen den Argumentationslinien Bärbel Völkels, die - grob zusammengefasst - für eine Abkehr eines ausschließlich kognitivistischen Geschichtsbewusstsein zugunsten eines im Leib verankerten Zeitbewusstseins als Zielvorstellung des Geschichtsunterrichts plädiert. [4] Auf dieser Theorie einer inklusiven Geschichtsdidaktik aufbauend argumentiert Rein, dass neben einer bewussten kognitiv-sprachlichen (elaboriert-historisches Bewusstsein) eine nicht-bewusste leiblich-reflektierte Ebene (biografisch-historisches Bewusstsein) in der schulischen Vermittlung von Geschichte mitgedacht werden müsste, um "wirklich alle Schüler*innen am historischen Lernen partizipieren" (134) lassen zu können.
Im zweiten Hauptkapitel wird ein methodisches Vorgehen vorgestellt, um die theoretischen Überlegungen empirisch zu überprüfen. Durch zweimaliges Interviewen von insgesamt sieben Lernenden mit Lernschwierigkeiten beabsichtigt die Autorin, Aufschluss darüber zu bekommen, ob bzw. inwieweit ihre fokussierte Gruppe leiblich-reflektiert und / oder kognitiv-sprachlich Sinn bildet. Dafür greift die Autorin auf die Repetory Grid Methodik zurück, um mithilfe eines Vergleichs der Erstellung und Verwendung von Konstrukten und Kontrastpolen der zwei unterschiedlichen Interviewzeitpunkte Einblicke in die Orientierungs- und Handlungsfähigkeit der Teilnehmenden bekommen zu können. [5] Auf Basis der erhobenen Konstrukte formuliert Rein die These, dass die teilnehmenden Schüler*innen sowohl über ein biografisch-historisches als auch ein elaboriert-historisches Bewusstsein verfügen. Wenngleich sie ihre Vermutungen detailliert darlegt, entsteht an einigen Stellen der Ergebnisdarstellung ein spekulativer Eindruck, der vor allem durch das Nutzen von Begriffen wie "vermutlich" (bspw.: 300; 314; 330) oder "es ist anzunehmen" (z.B. 315; 319; 322) vermittelt wird. Wünschenswert wäre eine klarere Trennung der Ergebnisse zwischen empirischen Befunden und möglichen Anschlusspunkten - von denen es zahlreiche gibt, wie Rein schlüssig herausarbeitet - an ihre eigene Forschung gewesen.
Nichtsdestotrotz hat Rein mit ihrer Untersuchung einen wichtigen Schritt geleistet. Ihr ist es gelungen, sowohl die Theorieentwicklung über das historische Lernen von Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten voranzutreiben als auch die Theorie mit empirischen Daten zu unterfüttern. Somit trägt ihre Untersuchung zu einer fundierten Weiterentwicklung der Theorie Völkels über eine inklusive Geschichtsdidaktik bei, deren theoretische Annahmen zwar bisweilen aufgrund fehlender Möglichkeiten zu intersubjektiver Überprüfbarkeit kritisiert worden sind, eine Reflexion jener aber zwingend notwendig ist, um die Geschichtsdidaktik inklusiver zu gestalten.
Anmerkungen:
[1] Stellvertretend Bettina Degner & Martin Lücke (Hgg.): Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts. 2016. Und Sebastian Barsch: Inklusiv Geschichtsunterricht planen. Frankfurt/M. 2020.
[2] Zum Beispiel Bettina Alavi: Leichte Sprache und historisches Lernen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), 169-190. Oder Sebastian Barsch: Leichte Sprache - eine leichte Methode zum Erfassen historischer Quellen?. In: Saskia Handro & Bernd Schönemann (Hgg.): Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Geschichtsdidaktische Forschungsperspektiven und -befunde. Münster 2022, 103-123.
[3] Zur Terminologie der von Rein untersuchten Gruppe gibt es mehrere Vorschläge: Schüler*innen mit geistiger Behinderung findet interdisziplinär ebenso Anklang wie die Begriffe Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten oder de von Rein gewählte Variante Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Einigkeit besteht nur dahingehend, dass der Beschreibung der Behinderungsform ein Präfix wie "Menschen", "Personen" oder eben "Schüler*innen" vorangestellt sein soll.
[4] Völkels bezieht sich in ihren Überlegungen primär auf Vertreter der Phänomenologie, wie beispielsweise Husserl oder Merleau-Ponty. Ausführlich finden sich Völkels Überlegungen über die Leiblichkeit und seine Relevanz für eine inklusive Geschichtsdidaktik u.a. Bärbel Völkel: Inklusive Geschichtsdidaktik: Vom inneren Zeitbewusstsein zur dialogischen Geschichte. Schwalbach/Ts. 2017. 155-170.
[5] Die Repetory Grid Methode geht auf George Kelly zurück, einem Vertreter der Personal Construct Psychology, siehe ausführlicher zu seinen Überlegungen George Kelly: The Psychology of Personal Constructs. Routledge 1992.
Franziska Rein: Historisches Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Eine Studie zur Sinnbildung durch die eigene Lebensgeschichte (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 24), Göttingen: V&R unipress 2021, 367 S., 30 Farbabb., ISBN 978-3-8471-1255-6, EUR 60,00
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