Wer gedacht hat, zu den res sacrae im Mittelalter sei bereits alles gesagt, wird mit diesem Buch eines Besseren belehrt. Die Autorin, deren erste wissenschaftliche Publikation auf das Jahr 1959 datiert, stellt ausgehend von den res sacrae die Frage: Wie verhalten sich Abendmahlsfrömmigkeit, Bilder- und Reliquienverehrung zueinander? Kommt einem der drei ein Primat zu, treten sie in gegenseitige Konkurrenz oder ergänzen sie sich wechselseitig? Diese gut hundert Seiten starke Studie über ein Jahrtausend Christentumsgeschichte bringt interessante Linien zum Vorschein.
Zunächst muss hervorgehoben werden, dass sich dieses Buch der Isolation während der Corona-Pandemie verdankt (18). Während die gegenwärtige Forschungslandschaft zu einer immer stärkeren Ausdifferenzierung und Spezialisierung neigt, zwangen die Bibliotheksschließungen dazu, neue Perspektiven auf bereits erworbenes Bildungsgut aufzuzeigen. So entstanden die Ausführungen zwar im engen Gespräch mit den Quellen und sind auf dem aktuellen Stand der Forschung. Dennoch verliert sich der Band nicht in Fußnotendiskussionen oder Nebenschauplätzen. Er ist außerordentlich flüssig geschrieben, klar strukturiert und wird durch 36 farbige Abbildungen bereichert. Es wird spannend zu beobachten sein, welchen Einfluss die Corona-Pandemie auf die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen hatte.
In der Einleitung erfolgt die notwendige Fokussierung. Unter res sacrae versteht die Verfasserin solche Gegenstände, denen sowohl materielle, als auch spirituelle Eigenschaften attribuiert werden (7). Die geographische Beschränkung auf den "Okzident" führt folgerichtig zum Fokus auf die drei Themenbereiche: Reliquien, Abendmahl und Bilderverehrung. Bei der letzten Kategorie geht es der Autorin ausschließlich um solche Bilder, die nicht menschlichen Ursprungs sind (10). Angesichts dieser Fokussierungen erscheint es nachvollziehbar, dass die Autorin keine strengen zeitlichen Grenzen für ihre Studie einhält. Sie behandelt sowohl das Martyrium Polykarps im zweiten Jahrhundert, als auch jenseits des eigentlich als Grenze postulierten 14. Jahrhunderts (7) weitere Ereignisse (etwa Abbildung 1 aus dem 16. Jahrhundert).
In sechs Unterabschnitten wird sodann das wechselvolle Verhältnis dieser drei Größen in der Christentumsgeschichte chronologisch entfaltet. Dabei fliegen Autoren, Werke und Artefakte oft in einem rasanten Tempo an einem vorbei. So wird in wenigen Sätzen über die Loca Sanctorum und eine universale Topographie bei Prudentius, anschließend über Viktor von Rouens De laude sanctorum und schließlich über die Bekehrung Augustins hin zu einer Reliquienfrömmigkeit geschrieben (20-25). Jedes dieser Themen hätte eine dicke Dissertation verdient, aber die Verfasserin bleibt fokussiert, erwähnt nur für sie wesentliche Aspekte und verweist bündig auf weiterführende Literatur und Diskurslagen der Forschung. Auch das Namensregister am Ende des Buches ist für die Lektüre sehr hilfreich. Ein gewisses Orientierungswissen sollte der Leser dennoch mitbringen.
In methodischer Hinsicht liefert die Verfasserin teils philologische Analysen, teils blickt sie auf bestimmte Praktiken und in einem anderen Kontext würdigt sie die konkrete Materialität oder lässt Perspektiven der Gender-Forschung einfließen. Sie nimmt erkennbar Impulse aus der jüngeren Forschung auf, aber die Leistung ihrer Arbeit liegt nicht auf dem Gebiet der Methodik, sondern in der souveränen Handhabung eines komplexen und umfassenden Themengebiets.
Die Fülle luzider Einzelbemerkungen kann hier nicht nachgezeichnet werden. Jedenfalls leuchtet die Systematisierung der Verfasserin ein (123): Sie unterscheidet zwischen dem Modell des Primats, dann demjenigen der Komplementarität und zuletzt der prinzipiellen Austauschbarkeit. Gleich welche Verhältnisbestimmung im Mittelpunkt steht, kommt zu keiner Zeit nur die eine oder andere vor. Die Verfasserin weicht der Komplexität der Kontexte nicht aus, sondern versucht diese in der gebotenen Kürze herauszustellen.
Zum ersten Modell gehört etwa der Wandel der Abendmahlsfrömmigkeit, als die Reliquie zunächst die Messe an den Ort des Märtyrergrabs lockte bis sie schlussendlich sogar für die "Weihe" des Altars unverzichtbar wurde (41, vgl. 58). Zudem ist ihre wundertätige Kraft nicht an einen Priester gebunden (32) und sogar ihr "Material" für die Auferstehung bestimmt (67). Hier lässt sich in der Tat von einem gewissen "Primat" sprechen.
Zum zweiten Modell eines sich wechselseitig unterstützenden Miteinanders gehörte schon die "Weihe" des für das Herrenmahl bestimmten Altars durch die Reliquie (41). Oder wenn der Staub des Altars Wunder vollbringt, da er quasi eine "Kontaktreliquie" der Hostie ist (91). Eine wechselseitige Durchdringung liegt auch vor, wenn die Reliquienschreine einerseits verehrte Bilder sind, andererseits die "Haut" der Reliquie selbst (15).
Das dritte Modell einer prinzipiellen Austauschbarkeit lässt sich vor allem dort greifen, wo die apotropäische Funktion im Vordergrund steht. So kann die Hostie schlicht zur "Ersatzreliquie" (96) werden, wenn Brot und Wein ihre Unabhängigkeit vom liturgischen Vollzug erlangen. Selbst Bischöfe entscheiden sich bei Beda im Krankheitsfall öfter für die Reliquie, als für die eucharistische Feier (53), obschon prinzipiell beides denkbar wäre. Vor diesem Hintergrund wird auch der Milchzahn Jesu zum Problem, wenn doch zuvor die physische Präsenz Christi der geweihten Hostie vorbehalten blieb (76).
Für den Theologen drängt sich bei der Lektüre sofort eine anschließende Frage auf: Welches Modell setzte sich aus welchem Grund jeweils durch? Die Verfasserin verweist lediglich auf die kirchlichen Eliten und gläubige Bedürfnisse (123). Der biblische Horizont aller von ihr skizzierten Debatten bleibt jedoch nahezu unsichtbar. Um die jeweiligen Dynamiken angemessen zu verstehen, wäre es vielleicht hilfreich gewesen, stärker noch die durch den Bezug zur Offenbarung begründete Eigenlogik der christlichen Religion herauszuarbeiten. Die Verfasserin beschränkt sich darauf, die entscheidenden Weichenstellungen in chronologischer Hinsicht zu benennen. So erwähnt sie zu recht Gregor den Großen, auch vor dem Hintergrund der späteren Bilderfindung der "Gregorsmesse" (46; Abb. 24), Petrus Venerabilis und sein systematisches Werk De miraculis (88; 92f.), aber auch die einschneidenden Reformen, die sich zeitlich rund um die Einführung des Fronleichnamsfestes verorten lassen und damit einen sinnvollen Abschluss des Buches bilden (88; 114).
Es ist der Verfasserin gelungen auf wenigen Seiten eine These überzeugend zu präsentieren: Das Verhältnis der drei res sacrae in Bilderverehrung, Abendmahlsfrömmigkeit und Reliquienkult kann mit Blick auf das Mittelalter nicht je für sich erörtert werden. Der Horizont der jeweils beiden anderen ist stets mitzuführen. Die einzelnen Wendungen dieses wechselvollen Verhältnisses könnten sicherlich noch präziser nachgezeichnet werden und an vielen Stellen kommt bei der Historikerin vielleicht die Theologie- und Geistesgeschichte als genuine Motivation zu Veränderungen ein wenig zu kurz. Dennoch ist ihr für diesen gleichermaßen mutigen, wie kundigen Aufschlag zu danken.
Sofia Boesch Gajano: Res sacrae. Strumenti della devozione nelle società medievali (= La storia. Temi; 102), Roma: Viella 2022, 162 S., 36 Farb-Abb., ISBN 979-12-5469-021-5, EUR 24,00
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