Der Reiz und besondere Wert der vorgelegten Monografie wird im Untertitel beschrieben. Sie behandelt den Prometheismus nicht allein in seiner sichtbarsten Form als Mittel antirussischer Ostpolitik im Kampf "Warschau gegen Moskau", sondern in seiner transnationalen Existenz. Damit hebt Zaur Gasimov dieses historische Phänomen aus der bislang überwiegend praktizierten Forschungsperspektive des polnischen Prometheismus heraus und stellt es in einen großräumiger gefassten Zusammenhang.
Der Prometheismus ist in der ansonsten gut aufgestellten deutschen Polenforschung ein eher randständiges Problem. Die wenigen dazu vorliegenden Studien stammen zumeist von Gasimov, der nunmehr als Produkt seiner langjährigen Forschungen diese ausführliche Untersuchung vorlegt. Die verarbeitete Literatur ist vielsprachig und umfassend, der Umfang der benutzten Quellen beeindruckend. Hier wird zum ersten Mal die ganze Vielfalt des Prometheismus aufgezeigt, und das nicht nur in seiner territorialen Dimension und Vernetzung, sondern auch in seiner politischen Tiefe und Differenziertheit. Der methodische Ansatz ist diskursiv, und Gasimov geht der Kommunikation der Protagonisten des Prometheismus in großer Breite nach, vor allem auf der Grundlage einer ausführlichen Analyse der Texte in den relevanten Zeitschriften. Diese Kärrnerarbeit liefert der Wissenschaft einen wichtigen Fundus an Quellen. Der Stoff wird chronologisch entwickelt und regional problematisiert. Es werden mit Istanbul, Paris und Warschau die Zentren des Prometheismus aufgesucht, wobei die Zweite Polnische Republik im Mittelpunkt steht. Hier entwickelt er seine ausgeprägteste, geradezu klassische Form als politische Waffe Polens gegen Russland, respektive die Sowjetunion.
Der Autor widmet sich neben der historischen Erzählung der schwer zu beantwortenden Frage nach Einfluss und Wirksamkeit des Prometheismus auf die polnische Außenpolitik in einer Bandbreite, die man heutzutage kategorisch als soft power und hard power bezeichnen würde. Die Frage ist deshalb heikel, weil ihre Beantwortung recht genaue Indizien für Charakter und Nachweisform des Prometheismus erfordert oder - anders ausgedrückt - ein definitorisches Gerüst benötigt, das äußerst schwer zu fassen ist, wenn das Phänomen eher als ideologische Vorstellung denn als politisches Prinzip betrachtet wird. Es handelte sich eben nicht, wie der Autor betont, um eine politische Bewegung, sondern eher um "Aktivitäten [...] mehrerer Netzwerke" (27), die durch eine große Vielfalt von Zielstellungen und Arbeitsmethoden gekennzeichnet waren, die zu keinem schlüssigen Konzept führten.
In einem einleitenden Kapitel "Prometheistische Geisteswelten" beschreibt der Verfasser die Interaktion und den kommunikativen Werdegang der prometheistischen Idee bis zu ihrer Ausformung am Ende des Ersten Weltkriegs. Er sieht deren Wurzeln im Wesentlichen in der polnischen Romantik und dem tradierten Befreiungsgedanken der Teilungszeit mit mythologischen Bezugspunkten, macht aber genauso auf die neue Qualität des Prometheismus unter dem Einfluss von Nationalstaatlichkeit und Unterdrückung durch das bolschewistische System aufmerksam. Dabei erscheint jedoch der in der historischen polnischen Selbstbetrachtung ausgeprägte messianistische Gedanke unterbewertet, der den imperialen Ansprüchen einer polnischen Außenpolitik, insbesondere der Ostpolitik, Legitimation verleihen sollte und ohne den die Haltung polnischer Prometheisten zur ukrainischen Eigenstaatlichkeit mit der festen Annahme einer engen Bindung an, wenn nicht gar einer Föderation mit Polen nicht zu verstehen ist.
In den zwei folgenden Kapiteln behandelt Gasimov die politische Entwicklung des Prometheismus in Polen als "inoffizielle Außenpolitik" (95) zur Aneignung des Ostens verbunden mit dem Mai-Umsturz 1926 und der Etablierung eines "prometheistischen Vorpostens" in Istanbul, um sich dann seiner zentralen Frage "Polens Kampf gegen die UdSSR" zuzuwenden. Hier wird chronologisch die Rolle Polens als kommunikatives Zentrum des internationalen Prometheismus entwickelt und seine Verankerung in institutionellen, personellen und politischen Strukturen bis zu seinem Abgleiten in die faktische Bedeutungslosigkeit im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs dargelegt.
Das letzte Kapitel mit "Schlussfolgerungen" zu überschreiben, scheint nicht glücklich gewählt. Der Autor gibt einen Ausblick auf die Entwicklung des Prometheismus nach 1939 bis in die Gegenwart und verfolgt die Schicksale der einzelnen Protagonisten. Es werden rhetorische Fragen gestellt, die der Text bereits behandelt hat. Somit hat der Abschnitt etwas von einer Zusammenfassung inklusive eines erneuten Versuchs einer inhaltlichen Bestimmung des Prometheismus in fünf Punkten. Wirkliche Schlussfolgerungen werden nicht angeboten. Hier wäre Gelegenheit gewesen, die Wirksamkeit des Prometheismus in der Praxis deutlicher zu benennen und seine Verortung in der Politik der Zweiten Republik präzise zu bestimmen. Ansatzpunkte hätten die Minderheitenpolitik vor allem gegenüber den Ukrainern und die Stellung zur Frage einer ukrainischen Staatlichkeit ausreichend gegeben.
Die hohe Qualität der Monografie steht außer Frage, und zu diesem Thema wird man schwerlich etwas Besseres finden. Dennoch ist zu fragen, ob Gasimov in seinem Bestreben, ein umfassendes Kompendium des Prometheismus zu liefern, nicht etwas übers Ziel hinausgeschossen ist. Das Streben des Autors nach detaillierter Darstellung ist sehr ausgeprägt und behindert zuweilen den Lesefluss und auch das Verständnis. Der geradezu enzyklopädische Charakter wird eher einem Handbuch gerecht als einer historischen Monografie.
Das Buch verfügt über einen tabellarischen Anhang wichtiger Organisationen, Medien und Publikationen prometheistischer Netzwerke sowie über ein Personenregister.
Zaur Gasimov: Warschau gegen Moskau. Prometheistische Aktivitäten zwischen Polen, Frankreich und der Türkei 1918-1939 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 95), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 371 S., ISBN 978-3-515-13262-6, EUR 64,00
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