Der Tagungsband "Varianten des Wandels" dokumentiert die Ergebnisse einer Online-Tagung des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster im März 2021 und entstand im Zusammenhang mit dessen Forschungsschwerpunkt "Westfalen.70-20" (18), an dem die drei Herausgeber sowie einige Autorinnen und Autoren mit Teilprojekten mitwirken. In der Einleitung diskutieren Frese, Küster und Thießen verschiedene "Deutungsversuche" (4) und Periodisierungen für die Zeitgeschichte; sie weisen dabei darauf hin, dass diese im Nachhinein nicht selten ihre Berechtigung verlieren. Demzufolge konstatieren sie einen gewissen Konsens, "das gesamte letzte Drittel des 20. und die beiden ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts als Phase beschleunigten Wandels" und "Formierungsphase einer globalen Gesellschaft" zu betrachten (11). Daher zielen sie mit ihrem Band nicht darauf ab, ein neues Großnarrativ anzubieten, das aufgrund der Unterschiedlichkeit der untersuchten Wandlungsprozesse nicht zu rechtfertigen wäre. Um "eine vorherrschende Makroperspektive" aufzubrechen, wählen die Herausgeber stattdessen eine regionalgeschichtliche Perspektive, die eine "Komplexitätsreduktion" und "Präzisierung von Makrobefunden" (12) ermöglicht. Der beschleunigte globale Wandel, dessen Langfristigkeit die Herausgeber betonen, habe aufgrund unterschiedlicher Kontexte, Akteure und Aushandlungsprozesse in regionalen "Varianten" stattgefunden, so die Hypothese. Ziel des Tagungsbandes ist es, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu zeigen, ebenso wie die Nichtlinearität von Prozessen und kontingente Ergebnisse (27, 410). Dabei wird die Rolle von - offen gefassten - Regionen als "Impulsgeber für Globalisierungsprozesse" und die Region als "Handlungsfeld für Globalität" hervorgehoben (12), mithin eine bottom-up Perspektive eingenommen. Die Herausgeber definieren sieben Themenfelder, in denen sich die Beiträge bewegen. Die Perspektive bisheriger Untersuchungen gesellschaftlichen Wandels anhand "ökonomische[r] und strukturelle[r] Prozesse" (27) soll vor allem durch die Einbeziehung "mentale[r] und kulturelle[r] Entwicklungen" erweitert werden.
Der umfangreiche Band besteht aus fünf nicht ganz gleichgewichtigen Teilen: In Teil I werden internationale Politik und ihre regionalen Auswirkungen im Kontext des Kalten Kriegs diskutiert. Die Themen reichen von der Friedensbewegung über die Stationierung britischer Truppen und lokale Umweltpolitik bis hin zum Mehrebenensystem der Europäischen Union und einem Vergleich regionaler Entwicklungsstrategien. Teil II thematisiert im weitesten Sinne die Arbeitswelt, wobei die Aufsätze Themen von der bundesdeutschen Hochschulreform über die Arbeitszeit von Verkäuferinnen bis hin zur Partizipation von Migrierten abdecken. In Teil III liegt der Fokus auf Veränderungen in verschiedenen Wirtschaftsbereichen, der Landwirtschaft, dem Tourismus, dem Finanzsektor sowie der Informationstechnologie. Der klare Aufsatz zum Forschungspotenzial von Regionalgeschichte im Bereich der Digitalisierung von Thießen hätte aufgrund seiner konzeptionellen Anlage auch in Teil V verortet werden können. Thießen plädiert dafür, "gesellschaftliche Wandlungsprozesse vor Ort in größere Zusammenhänge zu stellen" (411), was seit langem das Ziel vieler Regionalstudien ist.
In Teil IV werden sozial-kulturelle Fragestellungen anhand von Migration in den Räumen Hamburg und Ostwestfalen, die Veränderung von Milieus am Beispiel von Minden und die Rolle des Bistums Essen im Strukturwandel behandelt. Teil V ist, anders als die Überschrift "Perspektiven und Potenziale" vielleicht erwarten lässt, kein Fazit der vorhergehenden Beiträge, sondern stellt theoretische Grundüberlegungen zur Verklammerung von Regional- und Zeitgeschichte in Bezug auf den Strukturwandel dar. Andreas Wirsching hebt hervor, dass die in der Erinnerungskultur verhaftete Deindustrialisierung regional unterschiedlich ausgeprägt war und gleichzeitig die Industrie in anderen (Schwellen-)Ländern zugenommen habe. Zum Teil hätten sich in den vom Deindustrialisierung betroffenen Regionen neue Wirtschaftsbereiche entwickelt. Lutz Raphael zufolge lassen sich die regionalen Umbrüche in zwei Zyklen unterteilen: Von der ersten Ölkrise bis Mitte der 1980er Jahre habe ein Strukturbruch durch industrielle Krisen stattgefunden. Danach habe sich die Wirtschaft in zahlreichen Regionen bis zur Finanzkrise 2008/09 erfolgreich neu strukturiert (595), wobei monoindustrielle Räume vor den größten Problemen gestanden hätten (600). Regionalgeschichte betone, so Raphael, im Gegensatz zur zeithistorischen Konzeption des "Strukturbruchs" die Langfristigkeit und Variationen von Strukturwandel (589 f.). Sabine Mecking regt an, nach konvergenten und divergenten Entwicklungen des Strukturwandels in den Regionen zu fragen (612) und hierbei die regionalen Akteure in den Blick zu nehmen, vergleichend zu forschen - auch über Grenzen hinaus (626) - und die ehemalige DDR stärker mit einzubeziehen.
Der Band zeigt die Vielfältigkeit des Strukturwandels und das Forschungspotenzial auf zahlreichen Ebenen auf. In den meisten Beiträgen werden Forschungsperspektiven vorgestellt, zum Teil werden aber auch lokale Einzelstudien präsentiert. Zwar spricht grundsätzlich nichts gegen den von den Herausgebern gewählten "offenen Regionenbegriff" (20), doch bietet es sich hier vielleicht eher an, von Mikrostudien zu sprechen. Mit Region ist üblicherweise eine Verbindung zwischen verschiedenen kleineren Einheiten - bezüglich Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur oder anderen Aspekten - gemeint, die im Band nicht überall wahrnehmbar ist.
Der Untertitel mit der Zeitangabe 1970 bis 2020 könnte darauf schließen lassen, hier werde eine neue Epoche konzeptualisiert. Allerdings wird in der Einführung erläutert, warum dies gerade nicht das Ziel ist. Die Einzelbeiträge nehmen unterschiedliche Untersuchungszeiträume in den Blick und behandeln öfters auch die 1960er Jahre, wohingegen der gesamte Zeitraum nur selten abgedeckt wird. Der Band betont zu Recht die Notwendigkeit, globale Prozesse auch auf lokaler Ebene zu untersuchen, um Trugschlüsse einer top-down Perspektive zu vermeiden und "Eigensinnigkeiten" (21) in regionalen Aushandlungsprozessen herauszuarbeiten. Diese Vielfältigkeit hätte in thematischer Hinsicht stärker gebündelt werden können, um Vergleiche zu ermöglichen, wie sie von Thießen (410) und Mecking (624) als essenziell angesehen werden. Auch wenn eine stärker vergleichende Perspektive die Varianten des Wandels somit noch deutlicher hätte machen können, leistet der vorliegende Sammelband einen wichtigen Beitrag zur Regionalisierung der Zeitgeschichte.
Matthias Frese / Thomas Küster / Malte Thießen (Hgg.): Varianten des Wandels. Die Region in der jüngsten Zeitgeschichte 1970-2020 (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 89), Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2023, VIII + 638 S., 5 Farb-, 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-79547-2, EUR 96,00
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