sehepunkte 24 (2024), Nr. 4

Christiane Mende: Spur der Scherben

Die Selbstverwaltung der in Nordhessen gelegenen Glashütte Süßmuth durch die Belegschaft während der 1970er und 1980er Jahren steht im Mittelpunkt der Monographie, die aus der Dissertation von Christiane Mende hervorgegangen ist. Die Studie ist an der Schnittstelle zwischen der Geschichte einer niedergehenden Industriebranche und der Forschung zur Demokratisierung der Arbeitswelt zu verorten und verdeutlicht, welche historisch-spezifischen Faktoren zur Belegschaftsübernahme der Glashütte führten. Der Weg zur betrieblichen Demokratisierung war dabei keineswegs vorgegeben, vielmehr schufen verschiedene zusammenlaufende Entwicklungen innerhalb und außerhalb des Betriebes ein Machtvakuum, in dem die "Selbstermächtigung" der Beschäftigten überraschend möglich wurde. Geboren aus einem nahezu einmaligen Momentum symbolisiert die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth das Aufbäumen und die Grenzen basisdemokratischer Ideen in der Unternehmensführung rund um "1968".

Die Arbeit gliedert sich in drei inhaltliche Teile: Der erste Teil des Buches beschreibt die Voraussetzungen, die eine Übernahme durch die Belegschaft überhaupt erst möglich machten. Hierbei werden sowohl Akteurinnen und Akteure innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens betrachtet. Die akteurszentrierte Perspektive bleibt auch im zweiten Teil erhalten, der anschaulich die Diskrepanz zwischen der Vision kollektiven Wirtschaftens und der Praxis der Selbstverwaltung aufzeigt. Anhand des Konzepts der "Moralischen Ökonomie", an der sich auch die Parallelstudie zum französischen Uhrenhersteller LIP von Jens Beckmann orientiert [1], werden Schlagwörter wie "gerechter Lohn" oder "gute Arbeit" unter die Lupe genommen und in den Kontext der Selbstverwaltung eingebettet. Die Gründe für das Ende des wirtschaftspolitischen Experiments stehen im Zentrum des dritten Teils. Die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth sei nicht an zu viel, sondern an zu wenig Demokratie gescheitert, so die gründlich belegte These. Denn die praktische Umsetzung sei weit hinter den demokratischen Erwartungen zurückgeblieben. So dekonstruiert Mende erfolgreich die Narrative, die sich rund um das "Modell Süßmuth" (23) bildeten - befeuert sowohl von Zeitzeugen wie von bisherigen Publikationen -, und stellt das theoretische Konzept von "Selbstverwaltung" auf die Probe.

Viel erzählerischen Raum nimmt die Beschreibung der technischen Abläufe und Produktionsprozesse ein. Die Lesenden bekommen einen tiefen Einblick in die Fortentwicklung der Glasverarbeitung, der technischen Gerätschaften und des Marketings in der Glashütte. An einigen Stellen macht dieser "technikhistorische Blickwinkel" (32-33) die Arbeitsbedingungen im Unternehmen greifbarer und erklärt unternehmens- und branchenspezifische Konfliktlinien. Gerade im ersten Kapitel verliert sich die Arbeit jedoch teilweise auch in den detaillierten Beschreibungen der Glasherstellung. Eine stärkere Konzentration des Forschungszugriffs auf die sozial- und kulturhistorischen Aspekte der Unternehmensentwicklung wären stellenweise von Vorteil gewesen.

Mende greift für ihre Darstellung auf einen außergewöhnlichen Quellenfundus zurück. Die Interviews, die Schriftsteller Erasmus Schöfer 1972/73 mit einigen Beschäftigten aus der Glashütte führte, wurden als Tonbandaufnahmen überliefert und von der Autorin transkribiert. Zeitpunkt und Fülle der Gespräche bieten einen besonderen Blick "von unten" auf die Geschehnisse rund um die Selbstverwaltung und sind ein wahrer Schatz in der Überlieferung des Unternehmens - wie sich auch an der sporadischen Quellenlage der Vergleichsunternehmen zeigt. Die Narrative, die die Belegschaftsmitglieder in den Interviews widergeben, werden in der Abhandlung erfolgreich dekonstruiert. Eine kritische Einordnung der Quellengattung sowie der Person Schöfer kommen allerdings etwas zu kurz. Dies ist besonders bedauerlich, da es bereits einige Forschungsarbeiten gibt, die eine Methodik für die Sekundäranalyse ähnlicher Korpora etablieren konnten.[2]

Der 'Fall Süßmuth' bewegt sich zeitlich im Rahmen einer Geschichte "nach dem Boom". Die Autorin beschreibt jedoch weniger ökonomische Entwicklungen, sondern konzentriert sich neben technikhistorischen Aspekten vor allem - und zu Recht - auf eine Geschichte der Demokratie. Die maßgebliche Verknüpfung der Geschehnisse im Unternehmen mit "1968 - verstanden als Chiffre für längerfristige gesellschaftliche Auf- und Umbruchprozesse" (10) besteht dabei vor allem in der Gleichzeitigkeit der Entwicklungen: Die Selbstverwaltung wurde fast zeitgleich zu Willy Brandts Amtsantritt als Bundeskanzler eingerichtet und wiederum zum Zeitpunkt seines Rücktritts aufgelöst. Die Verbindungen zwischen Brandts Credo "Mehr Demokratie wagen" und der Vision eines basisdemokratischen Wirtschaftens in der Glashütte Süßmuth hätten an der einen oder anderen Stelle noch konkreter gemacht werden können. Auch wäre eine Einbettung in die aktuelle Forschungsliteratur zu "1968" abseits von rein wirtschaftshistorischen Arbeiten möglich gewesen [3] - zumal die Autorin die Arbeit nicht allein als Unternehmens- oder Wirtschaftsgeschichte verstanden sehen möchte, sondern explizit auf ihren sozial- und kulturgeschichtlichen Zugriff verweist.

Im Kapitel "Einordnung und Ausblick" wird der Fall Süßmuth etwas weiter in den "Resonanzraum '1968'" eingebettet, aber auch als Fallbeispiel einer Geschichte nach dem Boom kontextualisiert. Mende betont, der Fall Süßmuth zeige, dass nicht allein die veränderten Wettbewerbsverhältnisse zu einem Niedergang der Traditionsindustrien geführt hätten, sondern auch "die Herausforderungen des basisdemokratischen Aufbruchs in der Arbeitswelt" (699).

Das Buch besticht durch eine anschauliche Darstellung der Aushandlungsprozesse rund um die (Weiter-)Entwicklung der Selbstverwaltung inner- und außerhalb des Unternehmens. Vor allem die Diskrepanz zwischen den Erwartungen demokratischen Wirtschaftens im Geiste von "1968" und dessen Umsetzung in den Folgejahren wird überzeugend herausgearbeitet. Die Idee eines von der Belegschaft geführten Unternehmens blieb auch in der Glashütte Süßmuth mehr Theorie als angewandte Praxis. Christiane Mende erweitert damit die Forschungslandschaft rund um die Demokratisierung der Arbeit durch ein Puzzleteil, das die Ambivalenz dieser Entwicklung deutlich macht.


Anmerkungen:

[1] Jens Beckmann: Selbstverwaltung zwischen Management und »Communauté«. Arbeitskampf und Unternehmensentwicklung bei LIP in Besançon 1973-1987, Bielefeld 2019.

[2] Vgl. J. Lawrence: Social-Science Encounters and the Negotiation of Difference in early 1960s England, in: History Workshop Journal 77 (2014), 215-239; Mike Savage: Revisiting Classic Qualitative Studies. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, Vol 6, No 1 (2005) und weitergehend auch Jenny Pleinen / Lutz Raphael: Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), 173-196.

[3] So zum Beispiel Jan Eckel / Georg Schild: 1968 - Verdichtung des Wandels und globaler Moment, Tübingen 2019; Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018.

Rezension über:

Christiane Mende: Spur der Scherben. Die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth und der Niedergang der bundesdeutschen Mundglasbranche, 1969-1989 (= 1800/2000 Kulturgeschichten der Moderne; Bd. 13), Bielefeld: transcript 2023, 774 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-6303-7, EUR 40,00

Rezension von:
Helena Schwinghammer
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Helena Schwinghammer: Rezension von: Christiane Mende: Spur der Scherben. Die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth und der Niedergang der bundesdeutschen Mundglasbranche, 1969-1989, Bielefeld: transcript 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/04/38391.html


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