Inzwischen ist es zehn Jahre her, dass sich die Zeitschrift für Geschichtsdidaktik in einem Themenheft erstmals ausführlich mit dem Forschungsfeld der Visual History auseinandergesetzt hat. Die Geschichtsdidaktik, so formulierte damals Gerhard Paul, müsse im Anschluss an neuere Bildtheorien Bilder verstärkt "als eigenständige Transporteure und Dispositiva von Wissen und Wirklichkeitserklärungen sowie als (Macht-)Faktoren des historischen Prozesses" [1] in den Blick nehmen.
Den Herausgebern des vorliegenden Sammelbandes ist beizupflichten, wenn sie der Geschichtsdidaktik bescheinigen, sich dieser Herausforderung durchaus gestellt zu haben: In den vergangenen Jahren hat es zahlreiche Veröffentlichungen gegeben, in denen die konstruktive Eigenleistung von Bildern aus geschichtsdidaktischer Perspektive thematisiert wird. Richtig ist aber auch, wie die Herausgeber weiterhin feststellen, dass diese Forschungsbemühungen bis heute vor allem durch ein "Nebeneinander" und weniger durch ein konstruktives "Mit- und Gegeneinander" geprägt sind (10). Eine systematische Debatte darüber, wie sich die bildtheoretischen Prämissen der Visual History in theoretische und analytische Konzepte der Geschichtsdidaktik integrieren lassen bzw. welche forschungsmethodischen und (unterrichts-)pragmatischen Konsequenzen, Herausforderungen und Perspektiven sich hierdurch ergeben, hat sich bislang nur in Ansätzen entwickelt.
Es sei gleich gesagt, dass auch der vorliegende Sammelband nur eingeschränkt zu einer solchen Systematisierung beitragen kann. Zu heterogen sind die Gegenstände und Fragestellungen, von denen ausgehend sich die Autor*innen der einzelnen Beiträge auf dem Gebiet der Visual History bewegen. Der Anspruch, den die Herausgeber verfolgen, ist letztlich aber auch ein bescheidenerer: Sie wollen, wie der Untertitel des Buches verrät, zunächst (noch einmal) "Impulse und Anregungen" für die Erforschung von Bildern im Kontext historisch-politischer Bildungsprozesse liefern und hierfür insbesondere auch den Dialog mit anderen, der Geschichtsdidaktik nahestehenden Disziplinen suchen.
Eröffnet wird der Band von Gerhard Paul, dem Begründer der Visual-History-Forschung in Deutschland. Sein Aufsatz bietet einen detaillierten und informativen Überblick zum aktuellen Forschungsstand und erläutert darüber hinaus noch einmal die grundlegenden (bild-)theoretischen Prämissen der Visual History. Er liefert damit zugleich eine Art Rahmen für die weiteren Beiträge des Bandes, die - in mehr oder weniger expliziter Anknüpfung an diese Prämissen - nicht nur ganz unterschiedliche Bildmedien und Bildgebrauchskontexte in den Blick nehmen, sondern zudem auch sehr verschiedene thematische und konzeptionelle Schwerpunkte setzen.
So beschäftigen sich etwa Markus Bernhardt und Markus Walz auf ganz unterschiedliche Weise mit der Analyse gegenwärtiger geschichtskultureller Visualisierungspraktiken. Während Bernhardt, ausgehend von der exemplarischen Untersuchung einzelner Bildverwendungen in Printmedien, geschichtsdidaktische Forderungen für eine lernermöglichende Bildpräsentation in Schulbüchern formuliert, befasst sich Walz in einem sehr viel umfassenderen Sinne mit der Sichtbarkeit von "Dingen" in Museen. Sein Beitrag stellt verschiedene theoretische Ansätze zum "visuellen Verstehen" musealer Exponate vor und mündet schließlich in eine Kritik gegenwärtiger Ausstellungspraktiken, die Besucher*innen seines Erachtens kaum Möglichkeiten eröffnen, um entsprechende Fähigkeiten zu entwickeln bzw. zur Anwendung zu bringen.
Sehr unterschiedliche Schwerpunkte setzen des Weiteren auch jene Beiträge, die sich vorrangig mit bildmethodischen Fragestellungen auseinandersetzen. Thomas Goll skizziert im Rückgriff auf semiotische Kategorien der Bildanalyse ein politikdidaktisches Modell zur Arbeit mit Bildern und Maximilian Fink schlägt unter der Berücksichtigung fototheoretischer Überlegungen Modifikationen gängiger geschichtsdidaktischer Bildinterpretationsmodelle vor. Hilfreiche Impulse für eine Weiterentwicklung bildanalytischer Verfahren im Geschichtsunterricht liefert indes vor allem der Beitrag von Christin Neubauer und Mira Claire Zadrozny, deren kursorische Analyse zweier Historiengemälde auf entsprechende Potenziale der Rezeptionsästhetik aufmerksam macht. Dieser durch den Kunsthistoriker Wolfgang Kemp begründete Ansatz scheint in der Tat gut geeignet, um die im Geschichtsunterricht oftmals vernachlässigte formal-ästhetische Bedeutungsebene von Bildern genauer in den Blick zu nehmen.
Eine weitere Gruppe von Beiträgen nähert sich dem Forschungsfeld Visual History vornehmlich aus fachwissenschaftlicher Perspektive. So untersucht etwa Tobias Schade anhand zahlreicher Bildbeispiele Veränderungen in der Visualisierungspraxis von Wikingerschiffen vom Mittelalter bis heute. Julia Modes beschäftigt sich mit der bedeutungsgenerierenden Funktion des Bildmotivs capite transverso, einer insbesondere in Italien verbreiteten Darstellung von kopfüber, an den Füßen aufgehängten Personen. Ihre quellenmäßig dicht belegten Ausführungen zeigen auf, wie diese entehrende und diffamierende Darstellungsweise über verschiedene Episoden der italienischen Geschichte hinweg als Mittel politischer Kommunikation eingesetzt wurde. Eine Verbindung von fachwissenschaftlicher Bildanalyse und geschichtsdidaktischen Reflexionen zum Umgang mit Bildern in historischen Lernprozessen bietet der Beitrag von Christina Brüning. Ihr Aufsatz verknüpft die Analyse und Gegenüberstellung zweier ikonischer Fotografien, die im Zuge der Staatsgründung Israels entstanden sind, mit der Forderung nach einer kritischen Reflexion zugehöriger historischer (Master-)Narrative im Geschichtsunterricht.
Weitere, eher pragmatisch ausgerichtete Beiträge, beziehen sich schließlich auf die Nutzung und Thematisierung bildbasierter bzw. -affiner digitaler Medien im Geschichtsunterricht. Jonas Froehlich schlägt vor, die stark reduzierte und vereinfachte Visualisierung von historischen Inhalten in sogenannten Mobile Games als analytischen Zugang zur Auseinandersetzung mit stereotypen Geschichtsvorstellungen zu nutzen. Kathrin Klausmeier lotet Möglichkeiten der Förderung fachspezifischer Bildkompetenzen im Zuge der Erstellung von Instagram-Posts aus und Alexandra Krebs prüft, wie sich die Arbeit mit Bildern in das Konzept der digitalen Lernplattform "App in die Geschichte" integrieren lässt.
Die knappe Inhaltsübersicht macht deutlich: Leser*innen erhalten durch die Lektüre des Sammelbandes einen Eindruck davon, wie breitgefächert das Spektrum der Themen- und Fragestellungen ist, die das Forschungsfeld Visual History für die Geschichtsdidaktik bereithält. Zudem wird ersichtlich, dass es in diesem Zusammenhang hilfreich erscheint, Forschungsansätze und -zugänge aus anderen Disziplinen zu berücksichtigen. Mit Blick auf den Titel des Sammelbandes und das oben beschriebene Anliegen der Herausgeber werden sie dabei allerdings auch immer wieder vor die Herausforderung gestellt, Bezüge zwischen den bildtheoretischen Prämissen der Visual History und grundlegenden Theorien und Konzepten der Geschichtsdidaktik selbst herzustellen. Diese werden in den einzelnen Beiträgen nämlich in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit und gedanklicher Tiefe und zum Teil auch gar nicht thematisiert. Anzumerken bleibt schließlich noch, dass die Qualität der abgebildeten Bildbeispiele den zumeist komplexen Analysen der Autor*innen häufig nicht gerecht wird.
Anmerkung:
[1] Gerhard Paul: Visual History und Geschichtsdidaktik. Grundsätzliche Überlegungen, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), 9-26, hier 19.
Frank Britsche / Lukas Greven (Hgg.): Visual History und Geschichtsdidaktik. (Interdisziplinäre) Impulse und Anregungen für Praxis und Wissenschaft, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2023, 256 S., 47 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1585-2, EUR 31,90
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