sehepunkte 24 (2024), Nr. 5

Giuseppe Cusa / Thomas Dorfner (Hgg.): Genealogisches Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit

Ausgerechnet die Genealogie, eine kaum mehr betriebene Hilfswissenschaft, erfährt in den letzten Jahren ein großes Interesse in der Geschichtswissenschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, wie die Herausgeber des vorliegenden Tagungsbandes in ihrem Forschungsbericht feststellen (4-8). Dabei geht es allerdings nicht darum, tatsächliche Verwandtschaftsverhältnisse zu klären, indem genealogische Methoden angewandt und weiterentwickelt werden. Vielmehr wird, dem "cultural turn" folgend, die Genealogie selbst zum "Forschungsobjekt" (5): Ihre Methoden, Darstellungsformen und Geltungsansprüche sind demnach "konsequent zu historisieren" (3) mit dem Ziel, die "Pluralität vormoderner genealogischer Wissenskulturen" (2) herauszuarbeiten.

Der Band versammelt die Beiträge einer online-Tagung im Dezember 2021, organisiert von Giuseppe Cusa und Thomas Dorfner, damals wissenschaftliche Mitarbeiter am Historischen Institut der RWTH Aachen und jetzige Herausgeber. Nähere Angaben zu den Autorinnen und Autoren fehlen. Aufgrund positiver Begutachtung in einem Open-Access-Förderungsprogramm steht das Buch kostenlos zur Verfügung, wobei diese Tatsache in die Kalkulation des Ladenpreises eingeflossen sein dürfte. Die Druckfassung ist jedenfalls ansprechend gestaltet, die teils farbigen Abbildungen kommen auch ohne Hochglanzpapier gut zur Geltung. Nützlich für das Weiterstudium sind die Literaturverzeichnisse, mit denen alle Beiträge versehen sind, einschließlich der Einleitung der Herausgeber. In dieser sind vier Desiderate der Forschung benannt, die erkundet werden sollen und den Band gliedern: die Herstellung genealogischen Wissens durch Frauen und Nichtadelige, die Funktionen für die Geschichtsschreibung, die "Medialität und Materialität" dieses Wissens sowie dessen Rezeption und "Gebrauchswert" (8-12).

Zunächst wird der Blick erweitert über die in der Forschung schwerpunktmäßig betrachteten adligen Führungsgruppen hinaus. Eine gewisse Sonderform genealogischer Darstellung sind die "Ordensbäume" der Prediger im Dominikanerorden (Lena Marschall), da sie keine Abstammungsverhältnisse zeigen, sondern eine geistliche Familie mit dem Ordensgründer Dominikus als Ursprung. In diesem Zusammenhang entstanden frühe Baumdarstellungen mit theologischen Implikationen (Wurzel Jesse, Weinstock). Der zweite Beitrag widmet sich genealogischen Erzählungen und Notizen in Handwerkerchroniken des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, darunter eine von einer Bierbrauerin, aus Esslingen, Basel und Augsburg (Julia Bruch). Deutlich wird das Bestreben, die eigene Familie in soziale Gruppen, in die Stadt- und teils auch Herrschergeschichte "einzupassen" (82).

Wie genealogisches Wissen historiographisch eingesetzt wurde, ist Gegenstand des zweiten Abschnitts. Die dunkle Herkunft des sächsischen Adelsgeschlechts der Billunger (Carolin Triebler) wurde je nach "Darstellungsabsicht" (104) eher beiläufig, abwertend, als fiktive Kontinuität oder als Geschichte eines von Gott begnadeten Aufsteigers erzählt, wobei letztere Variante sich ins Sagenhafte weiterentwickelte. In das beneidenswert quellenreiche Padua des frühen 14. Jahrhunderts führt der nächste Beitrag (Giuseppe Cusa). Zwei Werke werden gegenübergestellt, in denen Herkunft, Wappen und lebende Angehörige von führenden Geschlechtern mit unterschiedlichen Akzenten dargestellt wurden. Auch hier finden sich Stadt- und Familiengeschichte vielfach miteinander "verwoben" (129). Konflikte um die Anwartschaft auf die sächsische Kur zwischen zwei Linien des Hauses zu Beginn des 17. Jahrhunderts lenken anschließend den Blick auf das Werk des Jenaer Gelehrten Elias Reusner (Marcus Stiebing). Auf Schwierigkeiten stießen im 15. und 16. Jahrhundert humanistische Versuche, die Ursprünge des polnischen und litauischen Volkes in der Antike zu verwurzeln (Oleksi Rudenko); einheimische Adelsfamilien rezipierten den Diskurs auf ihre Weise.

Anschließend steht die "Medialität und Materialität genealogischen Wissens" auf dem Programm. Auf Rollen (Rotuli) haben die Markgrafen von Baden und die Earls von Warwick im Spätmittelalter ihre Genealogien aufzeichnen lassen (Matthias Kuhn); sowohl die Badener Längsrolle mit stringenter stammbaumartiger Darstellung als auch die Querrolle aus Warwick mit einer Figurenreihe als Element einer komplexeren Darstellung zeigen Wappen und kommunizieren Kontinuität und hohes Ansehen des Geschlechts. Die große Bedeutung von Ahnenproben in unterschiedlichen Formen und Medien wie Trauerprozessionen, Leichenpredigten und Epitaphien (Michael Hecht) macht auf öffentlich wirksame Wissensbestände aufmerksam, die aufeinander Einfluss nehmen konnten. Auch der Buchmarkt kommt in den Blick: Adelsgenealogien des bedeutenden reichsständischen Hauses Schwarzenberg waren nicht unbedingt Auftragsarbeiten, sondern konnten auch auf dem "marketplace" konkurrieren (Markus Friedrich). Der abschließende Beitrag dieser Sektion widmet sich den Adelswappen und wirbt aufgrund enger Zusammenhänge mit der genealogischen Darstellung und Argumentation dafür, die Heraldik in die Betrachtung dieses Gegenstandes einzubeziehen (Olav Heinemann).

Schließlich geht es um die "Inszenierung und Rezeption genealogischen Wissens" anhand verschiedener europäischer Beispiele. Auf die bis 1066 regierende westsächsische Dynastie englischer Könige bezogen sich englische und schottische Nachkommen im 12./13. Jahrhundert (Franziska Quaas); unter den auf unterschiedliche Weise auf Herrschaftslegitimation abzielenden Darstellungen finden sich auch prächtige Rollen (325 f.). Den Abschluss des Bandes bilden Beiträge über die Versuche walachischer Herrschaftsprätendenten im 16. Jahrhundert, trotz mangelnder Vorarbeiten ihre Ansprüche genealogisch zu untermauern (Marian Coman), sowie die "Fairy Genealogy" (Angana Moitra), die am elisabethanischen Hof und in der englischen Adelsgesellschaft der Herrscherin eine märchenhafte Abkunft zuschrieb.

Anzuzeigen ist ein Tagungsband im positiven Sinn: Die Beiträge verschriftlichen jeweils den Vortrag und fallen also nicht zu umfangreich aus, sie argumentieren durchweg auf hohem Niveau und mit Bezug zum Tagungs- und Sektionsthema. Soweit sie Aspekte aus größeren Forschungsvorhaben einbringen, wagt der Rezensent die Hoffnung zu äußern, dass über die hier kenntnisreich dargestellten Aspekte hinaus auch die Validität der genealogischen Daten, die rückblickend konstruiert, dargestellt und rezipiert werden, nicht völlig außerhalb der Betrachtung bleibt. Dann wären beispielsweise die in Handwerkerfamilien und Paduaner Stadtgeschlechtern tradierten Kontinuitäts-, Aufstiegs- und Migrationsgeschichten über ihre Darstellungsweise hinaus sozialgeschichtlich interpretierbar, und sogar die zu Unrecht vergessene Hilfswissenschaft könnte aus Elementen des gegenwärtigen "Forschungsbooms" (8) willkommene Impulse gewinnen.

Rezension über:

Giuseppe Cusa / Thomas Dorfner (Hgg.): Genealogisches Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit. Konstruktion – Darstellung – Rezeption (= Wissenskulturen und ihre Praktiken / Cultures and Practices of Knowledge in History; Bd. 16), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, XI + 389 S., 34 Farb-, 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-079304-8, EUR 79,95

Rezension von:
Nicolas Rügge
Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Hannover
Empfohlene Zitierweise:
Nicolas Rügge: Rezension von: Giuseppe Cusa / Thomas Dorfner (Hgg.): Genealogisches Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit. Konstruktion – Darstellung – Rezeption, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 5 [15.05.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/05/38801.html


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