Mit dem Buch des Russlandhistorikers Andreas Renner liegt nun, wie der auf maritime Themen spezialisierte Mareverlag gleich mehrfach vollmundig verkündet, die "erste umfassende Monographie über die Erschließung der Nordostpassage" (Klappentext und Umschlagrückseite) vor. Das bezieht sich freilich nur auf die deutschsprachige Literatur, denn russische und englische Werke existieren längst.
Der Autor selbst bezeichnet sein mit anschaulichen Karten versehenes Werk dagegen etwas zurückhaltender nur als "einen kompakten Überblick über die gesamte Geschichte der Nordostpassage" (9). Damit hat der vor einem Jahrzehnt von der Ethnologin Gudrun Bucher veröffentlichte Überblick über die Geschichte der Erforschung der Nordwestpassage sein Pendant erhalten [1].
Wahrscheinlich dürfte Russlands Krieg gegen die Ukraine dem Werk eine größere, sich nicht nur für die Polargeschichte interessierende Leserschaft bescheren. So merkt der Autor selbst an: "Ohne Klimawandel, Coronapandemie und Ukraine-Krieg hätte ich [...] die Geschichte des ältesten Seewegs durch die Arktis anders erzählt." (249)
Nicht nur, weil die eisige Passage entlang der Nordküste Eurasiens in Folge des Klimawandels in den letzten Jahren immer häufiger relativ problemlos zu durchfahren ist, beginnt Renner mit der Gegenwart: "Die neueste Marinedoktrin der Russischen Föderation vom Juli 2022 nennt den Arktischen Ozean das für Russland wichtigste Seegebiet und Russlands Abschnitt der Nordostpassage ein historisch gewachsenes, nationales Erbe, das es gegen fremde Übergriffe zu schützen gelte." (10-11) Wieder einmal spielt Geschichte, oder besser gesagt ihre Interpretation eine entscheidende Rolle. Während russische Nationalisten, aber auch die russischen Machthaber im Nördlichen Seeweg eine russische Wasserstraße sehen und sogar Anspruch auf die gesamte arktische See vor ihrer Küste bis zum Nordpol erheben, argumentieren andere Länder, insbesondere die USA, aus historischen Gründen anders. Aus amerikanischer Sicht ist die Nordostpassage eine internationale Wasserstraße. Dabei ist bisher noch nicht absehbar, ob sich aus dieser Interessendivergenz ein Konflikt entwickeln wird. Auch wegen dieser Aktualität sieht Andreas Renner sein Werk als Wagnis und nicht nur, weil er eine vom 16. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart reichende Geschichte kompakt darstellen will.
Nach Prolog und aktueller Einführung sind die folgenden sieben Kapitel der Geschichte der Erkundung und Erschließung der Nordostpassage in der Zarenzeit gewidmet - angefangen bei den Fahrten der italienischen, niederländischen und englischen Seefahrer des 16. Jahrhunderts. Anschließend rekapituliert Renner die Geschichte der Suchexpeditionen des 17. bis 19. Jahrhunderts. Dabei geht es unter anderem um bekannte Fahrten wie die ursprünglich von Peter dem Großen initiierten Forschungsexpeditionen unter Leitung des Dänen Vitus Bering oder die erste Durchfahrt durch die gesamte Passage auf der "Vega" unter dem schwedisch-finnischen Naturkundler Adolf Erik Nordenskiöld 1878-1880 bis hin zur Hydrographischen Expedition von 1913. Auch weniger bekannte Fahrten und Expeditionen werden mehr oder minder ausführlich thematisiert wie beispielsweise die Semën I. Dežnëvs von 1648 oder die Ferdinand von Wrangels und Pjotr F. Anjous 1820-1824. Dabei wird deutlich, dass die Erschließung der Nordostpassage in Etappen von Flussmündung zu Flussmündung erfolgte. Der Vorstoß über Land nach Norden auf den großen Flüssen war meist erfolgversprechender als der entlang der arktischen Küste. Eis und Kälte machten dort ein Vorankommen oft schwer oder unmöglich.
Die anschließenden fünf Kapitel sind, wie es in sowjetischer Propaganda hieß, der "Aneignung des Nordens" (239) durch die neuen Machthaber gewidmet. Dabei werden nun die Eisbrecher zum Leitmotiv von Renners Darstellung. Diese umfasst den Zeitraum von der Oktoberrevolution 1917 über die Zeit des Stalinismus und des Kalten Krieges bis hin zur versuchten kommerziellen Öffnung der Nordostpassage durch Michail S. Gorbatschow. Danach behandelt der Autor die postsowjetische Epoche und zeigt Bezüge zur Gegenwart auf.
So wird deutlich, warum die jüngste russische Marinedoktrin von 2022 "in die Rhetorik des Kalten Krieges verfällt" (246). Das ist sicherlich ebenso wenig Zufall wie das rasante Wirtschaftswachstum auf Russlands nördlichem Seeweg im Zuge des erneuten Programms zur Industrialisierung: "Das gab es zuletzt in den 1930er-Jahren, in der finsteren Zeit von Stalins Industriediktatur" (239). Es geht, wie der Autor nun in den beiden Schlusskapiteln nachvollziehbar darlegt, vielmehr auch um die Wiedererlangung einer vor allem in der Selbstwahrnehmung verlorenen Großmachtstellung. Dabei kommt der Nordostpassage nicht nur wegen Russlands zunehmender Orientierung Richtung Asien eine immer größere Bedeutung zu: "Denn mit dem Ukraine-Krieg gewann die arktische Schifffahrt wieder an Priorität. Arktisches Öl und Gas soll nun im großen Stil nach Asien transportiert werden [...] China stellt in diesem Plan nicht nur den größten Absatzmarkt dar, sondern auch den wichtigsten Hoffnungsträger für die Einfuhr von Kapital und Know-how, um westliche Sanktionen zu kompensieren. Der Nördliche Seeweg soll zum Ausweg aus der Isolation in Europa werden" (241). Doch damit nicht genug: "In der Arktis werde die neue globale Konkurrenz zwischen Ost und West ausgetragen - ökonomisch und militärisch." (246)
Trotz der anschaulichen Karten wäre ein kurzer geographischer Überblick für diejenigen von Vorteil gewesen, die sich in der Arktis nicht so gut auskennen. Ohne Vorkenntnisse dürfte es manchem Leser schwerfallen, bei den vielen Inseln, Kaps und Flüssen den Überblick zu behalten.
Einiges wird etwas knapp abgehandelt oder gar nicht erwähnt. Da Renner ausführlicher darauf eingeht, dass das ausländische Interesse an der Nordostpassage schon dem Zaren Michail F. Romanov zu Beginn des 17. Jahrhunderts gar nicht gefiel, verwundert es besonders, dass er den Erlass Alexander I. von 1821 nicht erwähnt. Damit hatte der Zar erneut erfolglos versucht, ausländische Seefahrer aus den arktischen Gewässern Russlands fernzuhalten.
Auch einige nicht unwichtige Personen werden nur am Rande erwähnt wie Friedrich B. von Lütke, von dem der Verfasser ganz nebenbei erst als "dem berühmten Polarforscher" (92) und dann im Zusammenhang mit dem nach ihm benannten sowjetischen Eisbrecher als "einem Geographen des 19. Jahrhunderts" (175) spricht, ohne dass Leser Näheres erfahren. Welche Bedeutung Lütke in beiden Rollen für die Erforschung der Arktis im Allgemeinen und der Nordostpassage im Besonderen hatte, bleibt unerwähnt. Fachleute mögen in dem Buch zudem die eine oder andere russische Expedition vermissen wie die Paul Theodor von Krusensterns ab den 1840er Jahren zur Mündung der Petschora und in die Karasee, die heute beide wegen der Ölvorkommen, wie Renner aufzeigt, für Russland von großem Interesse sind.
Dass Pëtr K. Pachtusovs erste Expedition 1832-1833 ursprünglich gar nicht die weitere Erkundung Novaja Zemljas zum Ziel hatte, sondern als eine von dem aus Hamburg stammenden Reeder Wilhelm Brandt finanzierte Handelsfahrt zum Jenissei gedacht war, dürfte selbst für Experten neu sein.
Dass Andreas Renner auch in verschiedenen Archiven recherchierte, kommt seinem Buch zugute. Da das Werk vor allem als Überblick für ein interessiertes Publikum gedacht ist, fallen die genannten Defizite weniger ins Gewicht. Eine interessante, informative und spannende Lektüre bleibt es allemal, die zudem auch noch viel zum Verständnis der Gegenwart beiträgt.
Anmerkung:
[1] Gudrun Bucher: Abenteuer Nordwestpassage. Der legendäre Seeweg durch die Arktis, Darmstadt 2013.
Andreas Renner: Nordostpassage. Geschichte eines Seewegs, Hamburg: Marebuch 2024, 272 S., ISBN 978-3-86648-684-3, EUR 28,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.