sehepunkte 24 (2024), Nr. 6

Sören Urbansky: Steppengras und Stacheldraht

Sören Urbansky fragt danach, wie im russisch-chinesischen Grenzland die rote Linie auf der Karte zu einer sozialen Trennlinie geworden ist und wie diese Teilung die verschiedenen Lebensbereiche der Grenzbewohner durchdringen konnte. Er stellt dabei die These auf, dass sowohl die Menschen der Peripherie als auch die staatlichen Zentren für die Ausformung der russisch-chinesischen Grenze prägend waren. Sie entstand als Folge komplexer politischer Maßnahmen, deren Ziel es war, die Kontrolle der Staaten bis zur Grenze auszudehnen (15). In einer Perspektive der Longue durée vom 17. Jahrhundert bis heute will Urbansky zeigen, wie "die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie [...] dynamisch und fließend und von starken Kräften in beide Richtungen geprägt". (21) So soll die Diskrepanz zwischen staatlicher Rhetorik und Realität im Grenzland problematisiert werden. Das Buch ist in acht überwiegend chronologisch geordnete Kapitel gegliedert. Das 17. und 18. Jahrhundert werden nur gestreift. Die Darstellung fokussiert sich auf die Zeitspanne von Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Die weitere Entwicklung bis heute wird nur kurz skizziert. Das Argun-Becken ist Gegenstand der Mikrostudie. Dabei fokussiert sich der Autor insbesondere auf die Grenzsiedlungen Otpor/Zabajkal'sk auf der russischen und Manzhouli auf der chinesischen Seite. Seit dem Bau der Ostchinesischen Eisenbahn zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellen diese wesentliche Transitpunkte im Schienenverkehr zwischen den beiden Staaten dar.

Urbansky beginnt mit einem Rückblick auf die Entwicklungen seit dem 17. Jahrhundert, als Vertreter beider Imperien die gemeinsame Grenze erstmals grob definierten. Damals war das Argun-Becken ein offenes Grenzland, das von indigenen Hirten bewohnt wurde. Auch wenn im Laufe des 19. Jahrhunderts auf beiden Seiten Grenzposten eingerichtet wurden, blieb eine effektive Kontrolle Fiktion. Der Bau der Eisenbahn führte dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem starken Bevölkerungswachstum, wobei Siedler aus den Zentren in die Peripherie strömten und Indigene zu verdrängen begannen. Es war auch die Zeit einer Machtasymmetrie zugunsten Russlands. Die Ostchinesische Eisenbahn mit einzelnen Stationen, darunter Manzhouli, wurde zum kolonialen Vorposten des Zarenreiches. Allerdings blieb auch mit dem Bau der Eisenbahn der Einfluss der Zentren auf die Peripherie begrenzt. Unkontrollierte Grenzübertritte und Schmuggel waren auf beiden Seiten Alltag. Erst nach dem sowjetisch-chinesischen Grenzkrieg 1929 wurde die Grenze für die Bewohner immer schwerer passierbar. Die Konfrontation zwischen der Sowjetunion und dem 1931 gegründeten japanischen Marionettenstaat Mandschukuo führten zu einer weiteren Militarisierung auf beiden Seiten. Die Zugverbindungen blieben bestehen, allerdings konnten nur noch bestimmte Personen die Grenze überqueren.

Nach 1945 zelebrierten die Sowjetunion und Rotchina im Argun-Becken demonstrativ ihre Freundschaft. Allerdings blieb dies auf offiziell organisierte Kontakte beschränkt. Für gewöhnliche Bürger war die Grenze unpassierbar. Vielmehr wurde auch das Grenzland selbst auf beiden Seiten abgeriegelt. Das sowjetisch-chinesische Zerwürfnis begann sich ab 1956 abzuzeichnen und kulminierte in den kriegerischen Auseinandersetzungen um die Insel Damanskij/Zhenbao Dao im Sommer 1969. Die beiden Staaten brachen alle offiziellen Kontakte ab. Dessen ungeachtet blieb der Bahnübergang zwischen Manzhouli und Zabajkal'sk für Reisende aus anderen Ländern (v.a. Nordvietnam und Nordkorea) offen. Die Bahnmitarbeiter vor Ort waren die einzigen sowjetischen und chinesischen Bürger, die sich weiterhin regelmäßig trafen. Sie waren zuständig für eine "Diplomatie des guten Willens auf unterster Ebene" (354) in einer Zeit staatlich verordneter Feindschaft.

Insbesondere der Krieg von 1969 hat die Grenze in den Köpfen der Bewohner verfestigt. Auf sowjetischer Seite wurde ein Kult um die Grenzwächter, die die Heimat verteidigen, gepflegt. Die indigenen Bewohner und Personen, die als politisch unzuverlässig galten, wurden auf beiden Seiten entweder deportiert oder von einer loyalen Bevölkerung verdrängt. Diese demographische Entwicklung führte dazu, dass sich die beiden Seiten auch nach der Öffnung der Grenze ab Mitte der 1980er Jahre und dem Wachstum der Wirtschaftskontakte fremd geblieben sind.

Die Machtverhältnisse haben sich ab 1991 deutlich zuungunsten Russlands verschoben. Während Manzhouli eine chinesische Boomstadt ist, bleibt Zabajkal'sk ein "verschlafenes Nest". (394) Russland und China haben 2008 die Grenzstreitigkeiten friedlich beigelegt. Offiziell sind die beiden Staaten nun wieder herzlich miteinander verbunden. Am Argun dominiert aber das Mistrauen gegenüber den Nachbarn. Dort existiert die Grenze "weiter als ökonomische, politische, ethnische, soziale und kulturelle Trennlinie zwischen China und Russland; viele Hürden bestehen physisch sichtbar oder in den Köpfen der Grenzbewohner fort". (396)

Urbansky liefert anhand seiner Mikrostudie sowohl eine tiefgründige Analyse der problematischen Beziehungen zwischen Russland und China als auch einen Einblick in die Geschichte der Lokalbevölkerung, die letztlich zu einem Spielball ihrer jeweiligen Zentren wurde. Allerdings bleibt die chinesische Seite in dieser Darstellung blass. Darüber hinaus nimmt der Autor für sein Buch in Anspruch, dass das Leben der Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze in einer Longue durée bisher nicht erforscht worden sei. Der Ansatz ist zwar neu für das Argun-Becken, nicht aber an sich. Leider setzt Urbansky seine Erkenntnisse nicht in eine vergleichende Perspektive, darunter etwa zu Peter Sahlins Beitrag über die Entstehung der spanisch-französischen Grenze in den Pyrenäen, zu Börries Kuzmanys Buch zur Grenzstadt Brody oder zu Sabine Dullins Arbeit über die sowjetische Westgrenze. [1] Eine solche vergleichende Betrachtung des Zusammenspiels zwischen den sich modernisierenden Staaten sowie der resilienten Bevölkerung in der Peripherie würde etwa zeigen, dass anders als im Argun-Becken, wo die Bewohner sich letztlich - im Widerspruch zur von Urbansky eingangs geäußerter These - die Haltung der Zentren aneigneten und reproduzierten (360-369), die Bevölkerung in den Pyrenäen die Grenze durchweg auch zum eigenen Vorteil gegenüber dem Zentralstaat zu nutzen wusste. Ferner bemüht sich der Übersetzer des Bandes zwar um eine gendersensible Sprache, droht dabei aber ins Zweideutige und unfreiwillig Komische abzugleiten, wenn etwa behauptet wird, dass "Zollbeamtinnen nebenberuflich als Händler" gearbeitet hätten (399). Schließlich kann der Umstand, dass die russischen Begriffe und Titel in der Bibliographie nach englischen Standards transliteriert sind und nicht nach der für das Deutsche üblichen ISO-Norm, für zusätzliche Verwirrung sorgen. Diese Punkte schmälern aber nicht den durchweg positiven Eindruck der Arbeit.


Anmerkung:

[1] Peter Sahlins: Boundaries. The Making of France and Spain in the Pyrenees, Berkeley 1989; Börries Kuzmany: Brody. Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jahrhundert, Köln 2011; Sabine Dullin: La frontière épaisse. Aux origines des politiques soviétiques, 1920-1940, Paris 2014.

Rezension über:

Sören Urbansky: Steppengras und Stacheldraht. Eine Geschichte der chinesisch-russischen Grenze, Hamburg: Hamburger Edition 2023, 450 S., ISBN 978-3-86854-379-7, EUR 40,00

Rezension von:
Stephan Rindlisbacher
Viadrina Center of Polish Ukrainian Studies
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Rindlisbacher: Rezension von: Sören Urbansky: Steppengras und Stacheldraht. Eine Geschichte der chinesisch-russischen Grenze, Hamburg: Hamburger Edition 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 6 [15.06.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/06/38650.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.