sehepunkte 24 (2024), Nr. 6

Rezension: Neue Oldenbourg-Grundriss-Bände zum 19. Jahrhundert

Vor über vierzig Jahren startete der damalige Oldenbourg-Verlag in München mit dem "Grundriß der Geschichte" eine Studien- und Handbuchreihe, die sich als äußerst erfolgreich erwiesen hat, sodass sie auch heute noch - eine Rechtsschreibreform, eine Coverneugestaltung und eine Verlagsfusion später - offenbar ihre Abnehmer und Abnehmerinnen findet. Als Adressat war und ist wohl vor allem an ein studentisches Publikum gedacht. Dem Absatz dienten nicht nur der vergleichsweise kommode Preis und - im Unterschied zu manchen anderen damaligen mehrbändigen Handbüchern - die Möglichkeit, recht epochenspezifische Einzelbände zu erwerben. Auch die Dreigliederung jedes Einzelbandes mit Darstellung, Forschungsbericht und Quellen- und Literaturverzeichnis dürfte wohl gleichzeitig mancher und manchem Lehrenden und Forschenden behilflich gewesen sein. Für die Neueste Geschichte wirkte die Reihe anfangs als Handbuch schwerpunktmäßig zur deutschen und allenfalls europäischen Geschichte. Das hat sich längst gewandelt: Inzwischen liegen Bände zu osteuropäischen Räumen, zu Vorder-, Süd- und Ostasien und zum amerikanischen Doppelkontinent vor. [1] Zudem werden die Bände unterdessen hybrid veröffentlicht, sodass sich Studierende über ihre Universitätsbibliotheken auch elektronisch bedienen können.

Ein weiterer Grund für die große Verbreitung war wohl, dass Autoren und Autorinnen sowie der Verlag manchmal als Neuauflagen gezählte Nachdrucke, häufig aber auch tatsächlich überarbeitete oder jedenfalls ergänzte Neuauflagen auf den Markt brachten. Zumindest in einem Fall wurde schon früher in Reaktion auf eine Neuorientierung der Geschichtswissenschaft gar der Titel grundlegend geändert: Aus "Das Zeitalter des Absolutismus" wurde "Barock und Aufklärung". [2] In jüngerer Zeit bemühen sich die Herausgeber offenbar auch, den einen oder anderen neuen Band von Frauen schreiben zu lassen, was anfangs die große Ausnahme war. Gelegentlich nahmen Autoren in gehobenem Alter jüngere Kollegen für die Neuauflagen mit ins Boot; in anderen Fällen wurde eine komplette Neubearbeitung, dann ggf. auch unter Modifizierung des Titels, anderen Autoren übertragen, weil frühere Auflagen doch eine gewisse Patina angesetzt hatten und es alleine mit einer Ergänzung nicht mehr getan war.

Um letzteres handelt es sich auch bei den beiden hier zu besprechenden Büchern. Der Band von Jörg Requate ersetzt dabei denjenigen von Lothar Gall (wenn auch mit anderen zeitlichen Grenzen [3]), der erstmals 1984 und zuletzt 2009 in der 5. Auflage erschienen war. [4] Friedrich Kießling löst den letzthin schon gemeinsam mit Gregor Schöllgen veröffentlichten Band mit nur unwesentlich geändertem Titel und dem gleichen Berichtszeitraum ab. Schöllgen hatte den Band zuerst 1986 und zuletzt (eben gemeinsam mit Kießling) 2009 in der 5. Auflage publiziert. [5]

Was den äußerlichen Vergleich anbelangt, so ist er bei dem Band von Requate besonders auffällig: Benötigte Gall 1984 in der 1. Auflage bei deutlich größerem Berichtszeitraum 284 Seiten und zuletzt in der 5. Auflage von 2009 immerhin bereits 327 Seiten, so nutzt Requate für den halb so umfangreichen Berichtszeitraum 349 Seiten. Der Band von Schöllgen umfasste in seiner Erstausgabe 253 Seiten und zuletzt in der Zusammenarbeit mit Kießling in der 5. und überarbeiteten Auflage 326 Seiten; die jetzt von letzterem allein verantwortete Ausgabe weist mit 384 Seiten ebenfalls eine gewisse Umfangssteigerung aus.

Es ist kaum ein sinnvolles Unterfangen, in einer Besprechung den Inhalt von zwei Handbüchern zu referieren. Daher soll im Folgenden in eher grundsätzlichen Bemerkungen der Wert (und vereinzelt auch die Schwächen) der beiden Bände herausgestellt werden. Insgesamt lässt sich vorwegnehmen, dass es beiden Autoren für ihren jeweiligen Berichtszeitraum gelungen ist, das Fach Geschichte in seiner ganzen Breite der Politik-, Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte zu präsentieren, was natürlich nicht bedeuten kann, dass jeder noch so kleine neuere Forschungsansatz präsentiert wird: Dafür ist das Fach zu vielfältig geworden, und von daher sind auch die Umfangsteigerungen zu erklären.

Selbstverständlich sind bei einem Handbuch dieser Art die im Titel genannten Epochengrenzen nicht wörtlich zu nehmen: Gerade im Band von Requate, aber auch bei Kießling werden etliche sozial-, wirtschafts- und kulturhistorische Phänomene behandelt, die eben nicht 1870 bzw. 1890 schlagartig begannen, sondern längere Vorläufe hatten. Man denke an die Arbeiterbewegung, an demographische und wirtschaftliche Entwicklungen und manches andere. 1870 und 1890 wären eher einschneidende Jahre für die Politikgeschichte, die etwa im Vorgängerband von Lothar Gall noch den Schwerpunkt bildete. Auch sind die Begriffe "Moderne" und "Hochmoderne" sowie "Imperialismus" kaum durch allgemein anerkannte exakte Epochenjahre zu begrenzen. Und schließlich wird selbst der Begriff "Europa" aus dem Titel nicht ganz eingelöst: Requate wählt die Mehrzahl seiner angesprochenen Entwicklungen aus seinen Arbeitsschwerpunkten, nämlich Deutschland und Süd- und Westeuropa (inkl. Großbritannien), während Skandinavien eher am Rande mitläuft, Osteuropa immer mal wieder, aber insgesamt spärlich berücksichtigt wird und Südosteuropa bzw. die dort im Berichtszeitraum entstehenden Staaten kaum auftauchen. Bei Kießling ist das ein wenig ausgewogener; hier treten jedoch im abschließenden Kapitel zum Ersten Weltkrieg notwendig die Vereinigten Staaten als zusätzlicher außereuropäischer Akteur in den Kreis der Betrachtung. Aber im Gegensatz zum letzten vorherigen Handbuch der europäischen Geschichte, dem "Schieder" der 1960er und 1970er Jahre [6], gibt es neben Epochenüberblicken eben keine "Länderkapitel", die in ihrer Addition alle europäischen Staaten abdecken würden. Jedoch liegt dies auch daran, dass beide Autoren keine durchgängige Geschichte der Nationalstaaten schreiben wollen, sondern stets auch auf wichtige übergreifende Aspekte von Internationalität und Globalisierung hinweisen, die die Stärke der Nationalstaaten als der an sich entscheidenden Akteure jener Zeiten relativieren.

In einem Handbuch ist jeder Verfasser notwendig auf Kürzung und Vereinfachung angewiesen. An sich ist es schon eine beachtliche Leistung, auf so knappem Umfang auch nur für zwei Jahrzehnte das von früheren Historikern und Historikerinnen Erarbeitete auf den Punkt zu bringen. Da wird man nicht allzu kritisch sein dürfen, wenn gelegentlich apodiktisch Zahlen, beispielsweise aus der Demographie oder zur Frage von Alphabetisierungsquoten, geliefert werden, die doch allenfalls ungefähre Angaben sein können oder gar strittig sein mögen. Aber insbesondere die beiden Forschungsberichte nötigen dem Leser Respekt ab: Welche Unmenge an Material hier verarbeitet wird (und durch jeweils recht geschickte Auswahl auch überhaupt noch lesbar bleibt), zeigen zusätzlich die umfänglichen Literaturverzeichnisse. Dass Requate dort auf die Aufnahme von Quelleneditionen verzichtet und dies damit begründet, dass es zu viele gebe, kann allerdings nicht so recht überzeugen: Zum einen gilt dieses Argument auch für die Literatur; zum anderen sollen Studierende in ihrem Studium unter anderem an ein wichtiges Spezifikum der Geschichtsforschung herangeführt werden - eben an die Quellen, wozu sie diese auch zuverlässig ermitteln können müssen. Kießling hat sich hier aus der tatsächlich gewaltigen Menge an Quelleneditionen (man denke nur an die diplomatischen Akten zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs) auf ein vernünftiges Maß beschränkt.

Auf ein Handbuch sollten sich der Leser und die Leserin, was die Faktographie anbelangt, sicher verlassen können, etwa auch Studierende, wenn sie sich auf eine Prüfung vorbereiten. Bei Kießling, der einige Passagen aus der zuvor mit Gregor Schöllgen veröffentlichten Ausgabe übernimmt, ist dies, soweit ersichtlich, zuverlässig möglich. Anders verhält es sich leider mit dem Band von Requate, den man in dieser Hinsicht nicht empfehlen mag. Dass die Bevölkerung Dortmunds in einem gewissen Zeitraum "um mehr als das Doppelte" wuchs ( 85), wo sie doch recht genau "auf das Doppelte" anstieg, ist schlicht ein mathematischer Denkfehler, und man sieht so etwas mutatis mutandis in der historischen Literatur öfter. Aber kaum verständlich sind die Ursprünge anderer Fehler, die mit zwei Beispielen angedeutet werden sollen. Zum einen: Frankreich erlitt sicher keine militärische Niederlage "gegen Österreich (1866 bei Sadowa)" (74), wo - im deutschen Sprachgebrauch bei Königgrätz - die österreichische Armee bekanntlich der preußischen unterlag. Und das zweite Beispiel enthält dermaßen viele Fehler, dass man kaum umhin kann, die oben genannte Mahnung zur Lektüre von Quellen aufzugreifen: Die Emser Depesche hat gewiss nicht zum Inhalt, "dass sie als scheinbare Weigerung Napoleons III., den deutschen Botschafter zu empfangen, und damit als diplomatischer Affront erschien", was "den französischen Kaiser in der europäischen Öffentlichkeit als Schuldigen für die Eskalation erscheinen" ließ (124). Da ist so ziemlich alles falsch, was falsch sein kann: Nicht Napoleon III. hat sich geweigert, sondern der preußische König Wilhelm I.; einen deutschen Botschafter hat es vor der Reichsgründung nicht gegeben; und nicht wegen der Emser Depesche wurde Napoleon III. der Eskalation beschuldigt. Solche Fehler sind kein Ruhmesblatt für das Lektorat und die renommierten Reihenherausgeber. Sie schaden zudem dem Ansehen einer gesamten und an sich (wie auch der Band von Kießling) höchst lobenswerten Reihe. Bei einer Neuauflage müssten sie dringend korrigiert werden.


Anmerkungen:

[1] Eine Übersicht aller erschienenen Bände, deren Zählung anfangs der historischen Chronologie folgte, was später einfach durch den Erscheinungsrhythmus abgelöst wurde, unter https://de.wikipedia.org/wiki/Oldenbourg_Grundriss_der_Geschichte .

[2] Gemeint ist Bd. 11, der in der 1. bis 3. Auflage von Heinz Duchhardt vorgelegt wurde, ab der 4. Auflage unter dem neuen Titel erschien und seit der 5. Auflage von 2015 als "neu bearbeitete und erweiterte Auflage" von Matthias Schnettger mitverantwortet wird.

[3] Angekündigt für 2025 wird vom Verlag, dass Torsten Riotte den Vorläuferband für die Jahre 1850-1870 vorlegen wird: Nach der Revolution. Reaktion und Fortschritt 1850-1870.

[4] Europa auf dem Weg in die Moderne. 1850-1890 (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 14).

[5] Das Zeitalter des Imperialismus. (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 15).

[6] Einschlägig hier: Handbuch der europäischen Geschichte. Bd. 6. Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis zum Ersten Weltkrieg. Hrsg. v. Theodor Schieder [...]. Stuttgart 1968 [Nachdr. 1973].

Rezension über:

Jörg Requate: Europa an der Schwelle zur Hochmoderne (1870-1890) (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte; Bd. 52), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, XII + 349 S., 3 Farb-Abb., ISBN 978-3-11-035937-4, EUR 24,95

Friedrich Kießling: Europa im Zeitalter des Imperialismus 1890-1918 (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte; Bd. 53), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, XIII + 385 S., ISBN 978-3-486-76385-0, EUR 24,95

Rezension von:
Wolfgang Elz
Gönnheim
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Elz: Neue Oldenbourg-Grundriss-Bände zum 19. Jahrhundert (Rezension), in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 6 [15.06.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/06/38675.html


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