sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8

Pierre Bolle: Saint Roch

Nahezu 1000 Seiten, Backsteinformat: Was in vorliegendem Band über einen Heiligen zusammengetragen wurde, dessen Existenz als nicht gesichert gilt, gibt Anlass zum Staunen. Pierre Bolle, hat sich (wie der beste Kenner der Materie, Guy Philippart, in seinem lesenswerten Vorwort zu Recht bemerkt) auf eine Abenteuerreise begeben - "une aventure pleine de surprises" (9). Lange hat diese Reise gedauert - seinen Platz hat Pierre Bolle inzwischen nicht in der französischen Wissenschafts-, sondern in der Museumswelt gefunden, wo er als sehr erfolgreicher Direktor des Musée des Beaux-Arts in Charleroi amtiert. Der Heilige Rochus hat ihn freilich sein gesamtes Leben über begleitet und - dies sei vorweggenommen - das Ergebnis seiner Forschungen kann sich nicht nur sehen lassen, sondern tritt mit dem Anspruch an, das, was bisher als gesicherte Erkenntnis in diesem Bereich galt, grundlegend zu revidieren.

Dass Handlungsbedarf bestand, offenbart jeder noch so oberflächliche Blick auf die dem Heiligen Rochus gewidmeten Lexikoneinträge, die auch noch aktuell allzu oft von dem Bemühen zeugen, unterschiedliche, sich einander deutlich widersprechende Aussagen innerhalb der Viten miteinander in Einklang zu bringen. Und Pierre Bolle tut gut daran, im Laufe seiner Arbeit einer Quellengattung Beachtung zu schenken, die bisher auf wenig Interesse gestoßen war: den liturgischen Quellen, die doch zumindest einigermaßen sicher Auskunft darüber geben, wann der dies natalis des Heiligen begangen wurde, nämlich am 16. August. Der Befund ist mehrdeutig, wurde am selben Tag doch auch eines frühmittelalterlichen Bischofs von Autun mit demselben Namen gedacht.

Der Basisbericht präsentiert sich wie folgt: Rochus, in Montpellier in wohlhabende Verhältnisse hinein geboren, verliert früh seine Eltern, verzichtet auf sein Vermögen, pilgert nach Rom und hilft dort im Jahr 1317 bei der Pflege von Pestkranken. Er selbst wird 1322 in Piacenza Opfer der Pest, zieht sich in die Wildnis zurück, wird dort von einem Engel geheilt und von einem treuen Hund mit Brot versorgt. Zurück in Montpellier, wird er von niemandem mehr erkannt, wegen des Verdachts der Spionage ins Gefängnis geworfen, wo er fünf Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1327 zubringt. Erst post mortem erfolgt die Identifizierung mittels eines kreuzförmigen Zeichens, das er seit seiner Geburt auf der Brust trug. Bereits diese wenigen Zeilen zeigen die Dichte hagiographischer Topoi, die es weniger "historisch" zu entschlüsseln, als aus der "Eigengesetzlichkeit" hagiographischer Literaturproduktion heraus zu verstehen und zu erklären gilt. Die Ikonographie des Heiligen - ein Mann im Pilgergewand, Pestbeulen an den Extremitäten, in Begleitung eines Hundes, noch heute in den Sakralräumen Europas omnipräsent - beruht auf dieser Basiserzählung.

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in sieben große Abschnitte (I. L'historiographie: La fabrication d'une biographie vraisemblable; II. Le dossier littéraire: Fusion, réécritures et rationalisations; III. Le dossier documentaire: Peste et tempeste; IV. Les reliques: rumeurs, faux et ratures; V. L'iconographie: La préhistoire du saint pèlerin; VI. Conclusion générale; VII. Annexes documentaires).

Das literarische Dossier zum Heiligen Rochus ist ebenso umfangreich wie komplex. Bereits die im Jahr 1737 dem Pestheiligen gewidmeten Seiten im hagiographischen Flaggschiffunternehmen der Bollandisten, den Acta sanctorum, zeugen von der Schwierigkeit, die Abhängigkeiten der unterschiedlichen hagiographischen Texte genauer zu bestimmen, von der Klärung der nötigen Datierungsfragen ganz zu schweigen. Die Forschung ging zwei Jahrhunderte mehr oder minder verhalten weiter. Erst mit dem Erscheinen der Biblioteca agiografica italiana im Jahr 2003 sollte sich dies grundlegend ändern. [1] Gelistet fand sich dort nämlich ein Text, der den Rochus-Spezialisten bisher unbekannt war: eine Vita des Heiligen, überliefert in einem 1487 datierten Veroneser Codex, verfasst von Bartolomeo dal Bovo. Durch ihn ließ sich Licht ins Dunkel von Entstehungsdaten und Abhängigkeitsverhältnissen, "l'ordre dans ce désordre" (12), bringen.

Schon der Literaturüberblick, der in keiner Dissertation fehlen darf (denn um eine solche handelt es sich auch bei Bolle), fällt ausgesprochen ausführlich aus, liest sich wie ein kleiner Abriss hagiographischer Forschungen vom 17. bis ins 20. Jahrhundert und ist als eigenständiger Beitrag zur Geschichte vor allem der Bollandisten zu begreifen. En passant wird der Leser in die Prinzipien bollandistischer Methodologie eingeführt, Prinzipien, deren Beachtung auch heute all jenen vor Augen gestellt werden sollten, die sich (mehr oder minder verbissen) darum mühen, aus der Masse vermeintlicher hagiographischer Nichtigkeiten so etwas wie einen harten "historischen" Kern zu extrahieren.

Das Rochus-Dossier kämpft mit Schwierigkeiten an mehreren Fronten: ein Kanonisationsprozess hat niemals stattgefunden, in den Viten reihen sich offensichtliche Widersprüche inhaltlicher und chronologischer Natur aneinander, ein Grab existiert(e) nicht, dafür finden sich an unterschiedlichen Orten Reliquien des Heiligen. Bereits der Altmeister hagiographischer Forschungen, Hippolyte Delehaye, hatte 1934 vor letzterer Gemengelage gewarnt: "[...] personne ne contestera cet axiome: qu'une relique provenant d'ailleurs que du tombeau du saint est une fausse relique." [2] Auch hier versucht Pierre Bolle, die Aussagen der Viten zu deuten und sie (mit aller gebotenen Vorsicht) mit erhaltenen chronikalen und urkundlichen Quellen abzugleichen. Der Blick richtet sich dabei vor allem auf Venedig, wo mit der Rochus-Bruderschaft eine Vereinigung existierte, die für das städtische Selbstbewusstsein von großer Bedeutung war (und ist) und ausgesprochen erfolgreich agierte. Zeugnis dieses Erfolgs ist noch heute das große Bruderschaftshaus, die 1518 errichtete Scuola grande di San Rocco, weltberühmt aufgrund der künstlerischen Ausgestaltung durch Tintoretto. Formuliert wird die Hypothese, dass der Bericht eines furtum sacrum, dem zufolge die Reliquien des Heiligen 1485 von Voghera nach Venedig verlagert wurden, der Absicht entsprungen sein könnte, einen kirchenrechtlich verbotenen Reliquienerwerb, der zwei Jahre zuvor stattgefunden hatte, post factum symbolisch zu überhöhen. Noch dem letzten Zweifler sollte so klar vor Augen geführt werden, dass es der Heilige selbst war, der Venedig als finale Heimstatt für sich erkoren hatte.

Überzeugend herausgearbeitet wird, dass es sich beim Heiligen Rochus um "un doublet hagiographique italien d'un évêque d'Autun du VIIe siècle" (537) handelt, um eine Figur also, die im Laufe von acht Jahrhunderten drei große Heiligentypen verkörperte: den Bischof der Frühzeit, den glaubensstarken Ritter und den wohltätigen Laienpilger franziskanischer Prägung. Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts koexistierten drei Konstanten, die diese Personen miteinander verbanden: neben dem gleichen Vornamen waren dies der dies natalis, der in Südfrankreich und Italien am 16. August begangen wurde, und ihr "Spezialgebiet", die Pest. Die Verehrung des burgundischen Bischofs erlebte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im Languedoc eine Renaissance (mit einer Verschiebung des Gedenktages vom 5. Dezember auf den 16. August): Man rief Rochus nun aber gegen die Pest (pestis) an, wo er doch ursprünglich vor Wetterunbilden (tempesta) geschützt hatte. Neben der Sprachverschiebung (peste/tempeste; ein klassischer Fall von Aphärese) gab es einen weiteren Faktor, der diese Entwicklung begünstigte: In der mittelalterlichen, aus der Antike stammenden Ätiologie der Epidemie wurden die Ursachen für die Pest explizit mit denen der Stürme verwechselt.

Ein dokumentarischer Anhang von nahezu 250 Seiten liefert zunächst eine synoptische Edition der fünf maßgeblichen Viten (586-679), gefolgt von einer "édition synthétique" (680-709) in französischer Sprache, die allein einem Zweck dient: dem raschen Zugriff auf die Inhalte der einzelnen Viten samt der Möglichkeit eines schnellen Vergleichs. Es folgt der Abdruck der maßgeblichen liturgischen Quellen und der Sitzungsprotokolle (deliberazioni) des venezianischen Zehnerrats und der Scuola grande di San Rocco (samt der Urkunden zur Reliquientranslation). Ein umfangreicher Index (Handschriften, Inkunabeln, Heilige, Personennamen, Ortsnamen) beschließt einen Band, der die Forschungen zum Heiligen Rochus auf neue Grundlagen stellt. Methodisch wohlüberlegt, in der Analyse des gewaltigen Quellencorpus stets klug abwägend, gelingt es Pierre Bolle, Widersprüche innerhalb der Vitenproduktion überzeugend zu erklären (aber nicht unbedingt aufzulösen). Eine glänzende, beeindruckende Arbeit, die auf lange Sicht hin den "state of the art" hagiologischer Untersuchungen repräsentieren dürfte.


Anmerkungen:

[1] Jacques Dalarun, Lino Leonardi (a cura di): Biblioteca agiografica italiana (BAI). Repertorio di testi e manoscritti, secoli XIII-XV (= Archivio Romanzo; 4), Collection de l'Ecole française de Rome, Roma (Ecole Française) - Firenze (Edizioni del Galluzzo) 2003, 2 Bde. + CD-Rom.

[2] Hippolyte Delehaye: Cinq leçons sur la méthode hagiographique, Brüssel 1934, 76.

Rezension über:

Pierre Bolle: Saint Roch. L'évêque, le chevalier, le pèlerin (VIIe-XVe siècle) (= Hagiologia. Études sur la sainteté et l'hagiographie - Studies on Sanctity and Hagiography; Vol. 18), Turnhout: Brepols 2022, 953 S., 122 Farb-, 62 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-59662-4, EUR 145,00

Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Pierre Bolle: Saint Roch. L'évêque, le chevalier, le pèlerin (VIIe-XVe siècle), Turnhout: Brepols 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/07/37406.html


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