Warum wurde von Kunstwerken im 18. Jahrhundert gefordert, 'natürlich' zu sein? Unter welchen Bedingungen konnten Kunstwerke überhaupt als 'natürlich' wahrgenommen werden? Diesen Fragen nachgehend, rekonstruiert Jan von Brevern in seinem neuen Buch den Diskurs, in dem Natürlichkeit zu einem ethischen und einem ästhetischen Ideal wurde. Denn Natürlichkeit wurde im 18. Jahrhundert an allen möglichen Dingen und Personen, besonders aber an Kunstwerken und Künstlern gesucht. Wie Bilder und Texte in dieser Zeit einerseits Gärten, Brücken oder Spaziergänger und andererseits sich selbst als natürlich darstellen konnten, erforscht von Brevern in einer reichhaltigen, pointierten und unterhaltsamen Studie.
Zu Beginn verfolgt er den Aufstieg des Natürlichen als Gegenstand der Philosophie im 18. Jahrhundert. Dieser habe in einem Moment eingesetzt, in dem Natur als unerreichbarer Zustand und Geschichte als unaufhaltsamer Prozess aufgefasst wurden. Mit der Einsicht in die Geschichtlichkeit allen Seins sei die Sehnsucht nach Natürlichkeit einhergegangen. Seit Natur als "Nullpunkt der Kultur", also als unerreichbar galt, wurde Natürlichkeit als "Zielpunkt der Zweiten Natur" angestrebt (45). Angesichts der Unmöglichkeit, in die Natur zurückzukehren, hat etwa Schiller vorgeschlagen, "das 'Natürliche' als höhere Form des Bewusstseins wieder zu erlernen" (17). Dabei helfe es, Schiller zufolge, sich an solchen Kunstwerken zu orientieren, die nicht die Natur von etwas nachahmen würden, sondern ihre eigene Natur schüfen.
Die Frage, ob und wie Kunstwerke dem Anspruch, wie Natur zu wirken, gerecht werden konnten, ist der rote Faden in von Breverns Studie. Das Paradoxe des Projekts, Natur durch Kunst zu erzeugen, zeigt der Autor bereits im ersten Kapitel am Beispiel des Gartens, den die Protagonistin in Jean-Jacques Rousseaus Julie oder die neue Héloïse als "künstliche Wildnis" (23) anlegt. Ihr Garten kann insofern als Modellfall des 'natürlichen Kunstwerks' gelten, als er die Übersetzung von Natur in einen ästhetischen Gegenstand vorführt. Dass dieser Prozess der Natur entsprechen, das Ergebnis aber von der Natur unterscheidbar bleiben soll, beschreibt von Brevern als die Gratwanderung des 'natürlichen Kunstwerks'.
Das Schwanken zwischen dem Eindruck von Natur und dem Erkennen der Kunst dahinter, welches das 'natürliche Kunstwerk' hervorrufe, ist Thema des zweiten Kapitels. Schilderungen des gesteigerten Genusses, den die Annäherung der Kunst an den letztlich unüberbrückbaren Graben zur Natur im 18. Jahrhundert versprach, findet von Brevern in Berichten über das Eidophusikon von Philippe-Jacques de Loutherbourg. Der 1781 in London ausgestellte Apparat, der Bilder von Landschaften durch die Verschiebung von Kulissen und die Erweiterung um ein Licht- und Ton-Programm animierte, wurde sowohl für seinen Natur-Effekt als auch für seine Technik gelobt. Der Autor legt dar, dass die Evokation von Natur gerade deshalb als gelungen galt, weil hier Bewegung durch einen Mechanismus, nicht durch einen menschlichen Eingriff erzeugt wurde, und schlussfolgert: Um das Natürliche genießen zu können, durfte man zwar keine Mechanik sehen, musste aber von ihr wissen.
Während also in Loutherbourgs Eidophusikon Technik zum Einsatz kam, die unsichtbar blieb, um ein Bild natürlich erscheinen zu lassen, wird in seinem Gemälde An Avalanche natürlich erscheinende Technik zum Thema eines Bilds. Die Darstellung einer Brücke im Moment ihrer Zerstörung durch eine Lawine deutet von Brevern im dritten Teil seiner Studie als 'De-Naturalisierung' von Infrastruktur, die sie als Menschenkonstrukt im Kontrast zur Naturgewalt ins Auge stechen lasse. Dabei wendet er selbst ein, dass ein Verständnis von Natürlichkeit als Selbstverständlichkeit, das dieser Deutung zugrunde liegt, im 18. Jahrhundert noch nicht verbreitet war. Deshalb behandelt er auch William Williams' Gemälde A View of the Iron Bridge von 1780 nicht als ein Kunstwerk, das im 18. Jahrhundert als 'natürlich' gegolten hätte. Vielmehr dient ihm das Bild, das eine Eisenbrücke ästhetisiere und zugleich ihre materiellen Voraussetzungen 'naturalisiere', als Argument gegen Theorien des 20. Jahrhunderts, denen zufolge Kunstwerke das Natürliche, verstanden als das Selbstverständliche, immer nur dekonstruieren würden.
Das vierte Kapitel des Buchs ist der Frage gewidmet, wie Kunstwerke das Postulat einer 'natürlichen' Verhaltensweise im 18. Jahrhundert vorgeführt und in eine 'natürliche' Darstellungsform überführt haben. An Daniel Chodowieckis Stich-Serie Über natürliche und affectirte Handlungen des Lebens hebt von Brevern hervor, dass diese nicht Kultur- und Naturzustand gegenüberstelle, sondern Natürlichkeit als eine, die bessere Art der Kultivierung präsentiere. Dies gelte insofern auch für das Gemälde The Morning Walk, als Thomas Gainsborough darin ein Spaziergänger-Paar nicht einfach in der Natur, sondern in der Mode der Natürlichkeit porträtiert habe. Anders als Chodowiecki habe er Natürlichkeit als Verhaltensstil in seinem Bild aber weniger ironisiert als affirmiert - indem er diesem seine Malweise angepasst habe.
Was zeichnete im 18. Jahrhundert eine 'natürliche' Malweise aus, für die z.B. Gainsborough berühmt wurde? Wie von Brevern im letzten Kapitel seiner Studie darlegt, wurde damals der Stil eines Werks immer weniger als Anpassung an seinen Gegenstand und immer mehr als Ausdruck seines Schöpfers beurteilt. Wenn aber, wie etwa August Wilhelm Schlegel schreibt, die Natur des Künstlers den Stil des Werks vorgäbe, wäre dies dann nicht automatisch natürlich? Dass die persönliche Natur im 18. Jahrhundert als etwas galt, aus dem nicht einfach geschöpft werden kann, sondern das erst hervorzubringen ist, verdeutlicht von Brevern anhand einer Reihe an Autoren, die Methoden zur Erlernung eines natürlichen Stils vorschlagen, darunter "geistige Anschauung" (Schlegel), Verzicht auf Konventionen (Rousseau), Automatisierung der Schaffensprozesse (Étienne Bonnot de Condillac), gedankliche Konzentration (Karl Philipp Moritz).
Dass solche Bemühungen um Natürlichkeit nicht gleich als Betrugsversuche zu deuten sind, wie im 20. Jahrhundert oft geschehen, sondern als Strategien, mit der Unverfügbarkeit von Natur umzugehen, unterstreicht von Brevern im Epilog. Sein gesamtes Buch führt überzeugend vor, dass die Behauptung von Natürlichkeit, wie sie bis heute auf Limo-Flaschen und Magazin-Covern zu lesen ist, nicht als Verschleierung von Künstlichkeit und Geschichtlichkeit verdammt werden muss. Denn wie der Diskurs um das 'natürliche Kunstwerk' im 18. Jahrhundert zeigt, den von Brevern so erhellend schildert, kann gerade im Bewusstsein für die eigentliche Unnatürlichkeit der Dinge eine Wertschätzung für Natürlichkeit als künstlerische Leistung entstehen.
Vielleicht kann man sogar die Form des Texts zum Anlass für ein Lob der Natürlichkeit nehmen. Welche Mühe auch immer es den Verfasser gekostet haben mag, sich mit einer Vielzahl an theoretischen und künstlerischen Positionen auseinanderzusetzen und sie zu vernetzen - jedenfalls ist daraus ein Buch entstanden, das mühelos lesbar, reizvoll und lehrreich ist. Im Grunde eine Art Garten, in dem Gedanken zur Natürlichkeit im 18. Jahrhundert so kunstvoll verdichtet und verbunden werden, dass in ihm herumzuspazieren ein großes Vergnügen ist.
Jan von Brevern: Das natürliche Kunstwerk: Zur Ästhetisierung von Natürlichkeit im 18. Jahrhundert, Konstanz: Konstanz University Press 2024, 247 S., ISBN 978-3-8353-9153-6, EUR 34,00
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