Das chilenische Wirtschaftsmodell stützt sich trotz zahlreicher Reformen nach wie vor auf die neoliberalen Prinzipien aus den 1980er Jahren. Im regionalen Vergleich werde es, so der Wirtschaftswissenschaftler Sebastian Edwards, weiterhin als makroökonomischer Erfolg betrachtet. Mit Verwunderung stellt Edwards daher fest, dass es trotz positiver Bilanz 2019 zu Protesten gegen die Fortführung des Wirtschaftssystems kam. Die kontinuierliche Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel war ein zentraler Auslöser. Angesichts des Wahlsiegs des linken Präsidenten Gabriel Boric 2021, der bereits in seinem Wahlprogramm angekündigt hatte, den chilenischen Sozialstaat auszubauen, sieht Edwards das Ende des Neoliberalismus auf Chile zukommen.
In seinem Buch beleuchtet Edwards den Einfluss der Chicago Boys, einer Gruppe chilenischer Ökonomen, die an der Universität von Chicago ausgebildet und vom US-Außenministerium gefördert wurde, auf den Umbau der chilenischen Wirtschaft. Der Autor zeigt, wie diese Akteursgruppe die wirtschaftlichen Transformationen Chiles von 1955 bis in die Gegenwart beeinflusste und welche Rolle einzelne Personen beim transnationalen Wissenstransfer neoliberaler Ideen spielten.
Das Buch ist chronologisch strukturiert und besteht aus drei Hauptteilen. Im ersten Abschnitt beleuchtet der Autor die Anfänge des Neoliberalismus in Chile zwischen 1955 und 1973. Bereits in den frühen Jahren des Kalten Kriegs wurden die Grundsteine für den späteren Einfluss der Chicago Boys gelegt. Infolge der Kubanischen Revolution gewann die Planung von Maßnahmen zur Eindämmung des Sozialismus in Lateinamerika für die USA an Relevanz und so initiierte das US-Außenministerium das "Chile Project", um Ideen einer freien Marktwirtschaft zu verbreiten. Edwards berichtet über die Reisen von Earl Hamilton, Arnold Harberger, Simon Rottenberg und Theodore Schultz, die 1955 das entsprechende Abkommen mit der Pontificia Universidad Cátolica de Chile (PUC) aushandelten. Die ersten chilenischen Studenten begannen im Herbst des Folgejahres ihr Studium in Chicago. Zwei Jahre später erhielten die ersten Alumni eine Stelle am Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der PUC. Die politischen Ambitionen der Chicago Boys begannen schon vor dem Militärputsch. Bereits im Wahlkampf 1969 erstellten sie ein ökonomisches Wahlprogramm für den konservativen Kandidaten Jorge Alessandri. Da Salvador Allende die Wahl 1970 gewann, blieb ihr Einfluss jedoch zunächst vorwiegend auf den universitären Rahmen begrenzt. Edwards sieht Allendes Interventionismus als Hauptursache für die Verschlechterung der chilenischen Wirtschaft Anfang der 1970er Jahre. Dadurch sei auch der Militärputsch am 11. September 1973 zu erklären, mit dem Augusto Pinochet die Macht übernahm. Nun bot sich die Möglichkeit, das theoretische Knowhow aus Chicago in konkrete Wirtschaftspolitik umzuwandeln.
Im zweiten Teil des Buches behandelt der Autor die neoliberalen Reformen unter Einfluss von zwei Generationen der Chicago Boys während der Diktatur zwischen 1973 und 1990. Diese erlangten sehr hohe Posten im Regime Pinochets. Drei Absolventen der Universität Chicago hatten bis zum Jahr 1976 die wirtschaftliche Führung inne: Sergio de Castro fungierte als Finanzminister, Pablo Baraona als Wirtschaftsminister und Álvaro Bardón als Geschäftsführer der Zentralbank. Sergio de Castro hatte in der ersten Generation der Chicago Boys studiert und später die Fakultät für Wirtschaft an der PUC geleitet, bevor er unter Pinochet Minister wurde. Der Einfluss der Chicago Boys erlebte ab 1975 einen enormen Aufschwung. Aber nicht nur die chilenischen Ökonomen berieten Pinochet in wirtschaftspolitischen Fragen. Auch Milton Friedmans Besuch 1975 habe die Zusammenarbeit zwischen Pinochet und den Chicago Boys beflügelt. Edwards teilt die "Chicago school" in zwei Generationen ein: Zum einen die "purer neoliberals" (19) Gary Becker, Milton Friedman und George Stigler, zum anderen Arnold Harberger, Harry Johnson und Ted Schultz, die sich durch eine pragmatische und flexiblere Denkweise auszeichneten und für Chile bedeutsamer gewesen seien. Entgegen der geläufigen Annahme, dass vor allem Friedman die Wirtschaftspolitik Chiles beeinflusst habe, hebt Edwards die Rolle von Harberger für die Chicago Boys hervor. Umgekehrt könne man die Rolle Friedmans in Chile nicht vollkommen beiseiteschieben, da dieser Pinochet mindestens zweimal persönlich traf und ihm angesichts der anhaltenden Inflation 1975 zu einer Schocktherapie riet, um die Preise zu stabilisieren. Diese Schocktherapie wurde als wirtschaftlicher Erfolg gefeiert, ging jedoch mit einer zunehmenden Arbeitslosigkeit einher. Das Jahr 1980 sieht der Autor als zentralen Wendepunkt, denn mit der neuen Verfassung wurden viele Ideen der Chicagos Boys gesetzlich verankert. Zwei Jahre später erlebte die chilenische Wirtschaft eine schwere Rezession. Ursache hierfür war insbesondere der weitgehend unregulierte Bankensektor, der von linken Kritikern als Ergebnis der Schocktherapie angesehen wird. Laut Edwards lag der Fehler hingegen im von Sergio de Castro eingeführten festen Wechselkurs, der nicht mit Friedmans Konzept übereinstimmte. Seit Mitte der 1980er Jahre erlebte Chile tatsächlich einen ökonomischen Aufschwung, und es gelang, die Armut im Land zu reduzieren, gleichwohl lagen die durchschnittlichen Löhne 1989 immer noch unter dem Niveau von 1970, und die soziale Ungleichheit hinsichtlich der Einkommensverteilung hatte sich verschärft.
Der dritte Teil des Buches befasst sich mit der Rückkehr zur Demokratie (ab 1990) bis zum Aufkommen der Proteste (2019), die das Modell der Chicago Boys in Frage stellten. Insgesamt beurteilt Edwards die neoliberalen Reformen Chiles mit Einschränkungen als Erfolg. Als Erfolge seien vor allem der rasche Anstieg des Wirtschaftswachstums und eine vermeintliche Verminderung der Armut in Chile anzusehen. So habe sich Chile trotz der Rezession 1982 innerhalb kürzester Zeit zum ökonomischen Vorreiter Lateinamerikas entwickelt. Vernachlässigt habe die Regierung hingegen die ungleiche Verteilung des Reichtums. Dabei sieht Edwards nicht die Disparitäten an sich als Problem, sondern die Tatsache, dass diese als Katalysator für die Proteste dienten und somit zu Wahlerfolgen linker Parteien führten. Dass weite Teile der Bevölkerung bis heute keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu Bildungseinrichtungen haben, scheint hier nebensächlich.
Edwards befürchtet, dass Chile durch die Abkehr vom Neoliberalismus, welche er sich vor allem durch die Begriffssymbiose zum Regime Pinochets erklärt, von der ökonomischen Spitze ins Mittelfeld der lateinamerikanischen Staaten rücken wird. Er hebt daher den positiven Einfluss der Chicago Boys auf die wirtschaftliche Entwicklung hervor. Bisherige Studien bezeichnet er als zu parteiisch, so kritisiert er das Buch von Juan Gabriel Valdés [1], der einen zu starken Fokus auf den äußeren Einfluss der USA lege. Allerdings wird bei der Lektüre deutlich, dass auch Edwards alles andere als unparteiisch ist. Als ein in Chile geborener Absolvent der University of Chicago, beschreibt er sich selbst als "colleague, coauthor, and close friend of Al Harberger" (23), auch wenn er sich selbst nicht zu den Chicago Boys zählt. Das Buch widmet Edwards nicht nur seiner Ehefrau, sondern ebenso Arnold Harberger persönlich. Edwards verschleiert zwar nicht seine Nähe zu den Akteuren seiner Untersuchung, aber er reflektiert nicht ausreichend, was dies für seine Forschungen bedeutet. Ausländische, insbesondere US-amerikanische Berater werden tendenziell als Schiedsrichter dargestellt, die keine eigenen Interessen gehabt hätten. Hier fehlt eine Einbeziehung transnationaler Verflechtungen über die Verbindung zum Chicagoer Institut hinaus. Ebenso wird die Rolle von Unternehmen kaum beleuchtet. So intervenierten US-Unternehmen Anfang der 1970er Jahre durch Sanktionen gegen Allendes Wirtschaftspolitik. Dies hatte zur Folge, dass multilaterale Finanzierungsprogramme des Weltwährungsfonds und der Weltbank für Chile gestrichen wurden.
Sebastian Edwards Buch liest sich eher als eine in die chilenische Wirtschaftsgeschichte eingebettete, persönliche Erzählung, die die Vernetzung der Chicago Boys mit der chilenischen Regierung aufzeigt. Die politische Agenda des Autors wird dabei schnell deutlich. Dennoch lassen sich interessante Impulse für den Wissenstransfer und die Anwendung ökonomischen Wissens finden. Die Vernetzungsstruktur der Chicago Boys wird gut erkennbar, und es wird deutlich, dass jene Akteure unter der Militärdiktatur mehr als marginale Regierungsberater waren.
Anmerkung:
[1] Juan Gabriel Valdés: Pinochet's Economists. The Chicago School in Chile, Cambridge 1995.
Sebastian Edwards: The Chile Project. The Story of the Chicago Boys and the Downfall of Neoliberalism, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2023, xxiii + 343 S., ISBN 978-0-691-20862-6, USD 32,00
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