Das Thema "Zeit" wird in den Geisteswissenschaften intensiv beforscht und hat auch in den Altertumswissenschaften zu einer beachtlichen Forschungsaktivität geführt. Das Buch von James Ker "The Ordered Day" fügt sich in die Reihe solcher Untersuchungen ein und nimmt, mit dem Tag, die kleinste natürliche Zeiteinheit in den Blick. Ker geht es um die Strukturierung des (All-)Tages in der römischen Welt, weshalb er in den überlieferten Textzeugnissen nach individuellen Rhythmen und Intervallen sucht. Das antike Rom stellt dabei laut Ker die früheste europäische Kultur dar, für die eine solche Untersuchung überhaupt möglich ist (11).
Kers Monographie zerfällt in drei logisch aufeinander folgende Teile. Im ersten Teil "Ordering History" geht es zunächst um die Frage, wie sich die Römer in der späten Republik und frühen Kaiserzeit die Ursprünge der Einteilung des Tages in (saisonale) Stunden vorstellten und inwiefern diesen noch in den Texten greifbaren Diskursen Informationen über die tatsächlichen Kippmomente erhöhter Zeitpräzision zu entnehmen sind. Besonders in diesem Teil zeigt sich die erhöhte Komplexität des Forschungsgegenstandes, denn die Quellenlage ist für das zweite und weite Teile des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, in denen sich in Rom die schrittweise Übernahme von Zeitmessern aus dem griechischen Raum vollzog, bekanntlich dünn und oftmals fragmentarisch. Dank einer sorgfältigen Auswertung der disparaten Quellenzeugnisse gelangt Ker dennoch zu einigen wichtigen Erkenntnissen. So kann er plausibel nachzeichnen, dass die zunehmende zeitliche Präzision der römischen Lebenswelt nicht erst unter der Herrschaft des Augustus einsetzte, sondern sich wohl schon vor der literarischen Schaffenszeit Caesars und Ciceros vollzog. Aus deren Schriften lässt sich, wie Ker zeigt, eine Vertrautheit der römischen Leserschaft mit präzisen Zeitangaben des zivilen wie militärischen Tages entnehmen. Auch zeigt Ker anhand detaillierter Analysen zweier kurzer Erzählungen von den Ursprüngen der römischen Stunde bei Plinius dem Älteren und Censorinus, die wohl beide Varros de lingua Latina als Grundlage nutzten, wie sich römische Autoren des Zeitthemas bedienten, um eine eigene literarische Agenda zu verfolgen.
Noch klarer wird dieser Umstand in dem zweiten Teil der Untersuchung "Ordering Lives", in dem Ker sich der Narrativierung des römischen Alltages in der lateinischen Literatur annimmt. Zunächst widmet er sich den idealisierten Tagesabläufen wie sie in den landwirtschaftlichen (Cato, Varro, Columella) und medizinischen Schriften (Celsus, Diokles von Karystos, Galen) sowie in vereinzelten Nachrichten über das Leben einiger römischer Kaiser zu finden sind. Deutlich tritt hier vor Augen, wie zentral die Verfügung über die eigene und der Zugriff auf die Zeit anderer in diesen Berichten ist. Bereits das Zeitregime das Gutsherrn über seine unfreien Arbeitskräfte zeigt die unmittelbare Verflechtung von Zeit und Macht, sie tritt aber insbesondere in den Alltagsroutinen des Princeps hervor, nach dessen Rhythmen sich alle anderen Akteure richten müssen. Was sich hier zeigt, wird auch in den folgenden drei Unterkapiteln bestätigt, in denen Ker jeweils zwei römische Autoren einander gegenüberstellt, die über ihre eigenen Tagesabläufe berichten. In allen Texten ist das Spannungsverhältnis zwischen der eigenen Zeitautonomie und der Abhängigkeit von der Inanspruchnahme der Zeit durch andere ein Thema. Stellvertretend sei hier nur auf die Gegenüberstellung der Alltagsschilderungen von Plinius dem Jüngeren und Martial verwiesen (Kapitel 7), in der Ker überzeugend nachweist, wie beide Autoren sich als Akteure inszenieren, die angesichts öffentlicher Pflichten als Staatsmann (Plinius), bzw. Verpflichtungen als Klient (Martial), auf ideale Weise die ihnen zur Verfügung stehende Zeit nutzen. Des Weiteren zeigt Kers Untersuchung, dass antike Autoren vermeintlich harmlose Beschreibungen des eigenen Alltages nutzen konnten, um Botschaften an die Lesenden zu senden. So kann beispielsweise Cicero durch eine Beschreibung seines Alltages, die wohl nicht zufällig an eine Polemik gegen die Epikureer erinnert, auf seine eigene, unerfreuliche neue Lebensrealität unter der faktischen Alleinherrschaft Caesars verweisen (Kapitel 6).
Im dritten Teil "Ordering Knowledge" beschäftigt sich Ker schließlich mit der Rezeptionsgeschichte des römischen Alltages. Bereits in der Spätantike nahmen christliche Autoren Bezug auf die alltäglichen Routinen, wie sie sie bei nicht-christlichen Zeitgenossen beobachten konnten und nutzten diese primär als Negativfolien, von denen sie sich abgrenzten. Auf diesen Punkt kommt Ker schließlich im Rahmen seiner Durchsicht moderner Handbücher, in der Tradition von Jérôme Carcopino, [1] zurück. Ker ermittelt insgesamt sechs Tendenzen dieser spezifischen Literaturgattung, in der die Autor*innen ihren Leser*innen einen Einblick in das Leben im antiken Rom vermitteln wollen. Neben dem Problem der geringen Quellenbasis, mit der diese Handbücher notgedrungen auskommen müssen, bei gleichzeitigem Anspruch, einen Eindruck vom römischen Alltagsleben zu vermitteln, zeigt sich auch die Tendenz, dass der römische Alltag modernen Autor*innen ebenfalls als Vergleichsfolie zur eigenen Lebensrealität dient.
James Ker hat mit "The Ordered Day" eine äußerst lesenswerte und originelle Studie vorgelegt, in der er, ohne selbst dem Anspruch zu erliegen, allgemeine Aussagen über "den" römischen Alltag treffen zu wollen, vor allem die Narrativierung von Tagesroutinen mit großem Gewinn ins Zentrum rückt und zeigt, auf welch vielfältige Weise das Thema in der lateinischen Literatur zum Einsatz gekommen ist.
Anmerkung:
[1] Jérôme Carcopino : La vie quotidienne à Rome à l'apogée de l'empire, Paris 1939.
James Ker: The Ordered Day. Quotidian Time and Forms of Life in Ancient Rome, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2023, XIV + 458 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-1-4214-4517-5, USD 59,95
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