Die "Borysthenitische Rede" des kaiserzeitlichen Autors Dion von Prusa, die eine Begegnung mit den Bewohnern der griechischen Kolonie Olbia (an der Küste der heutigen Ukraine) und einen vor diesen gehaltenen Vortrag Dions referiert, war in dem noch jungen 21. Jahrhundert bereits dreimal Gegenstand wissenschaftlicher Kommentierung (2003, 2011 und 2017), was bereits das beträchtliche Interesse zeigt, das dieser Text gerade auch in den letzten Jahrzehnten erregt hat. Im Unterschied zu diesen früheren Kommentaren vertritt der neue von Anna Nieschler eine prononciert andere These zu Zweck und Funktion dieser Rede: Sie sei nicht dazu da, einen echten persischen Mythos zur Unterstützung der stoischen Theorie zu periodischer Auflösung und Erneuerung der Welt zu präsentieren oder eine politische Botschaft zur besten Lenkung von Poleis oder anderen Staaten zu vermitteln; vielmehr wolle der Redner seinen eigenen Einfallsreichtum vorführen und damit niveauvolle Unterhaltung bieten.
Diese These wird im ersten Teil des Buches (überschrieben mit "I. Inhalt und Interpretation") auf 80 Seiten (11-90) schrittweise entwickelt. Der erste Abschnitt (13-26) bietet eine detaillierte Nachzeichnung des Inhalts der Rede; im zweiten steht der Abschnitt im Mittelpunkt, in dem Dion den schon genannten "persischen" Mythos präsentiert (§ 39-60): Zunächst (26-55) geht es um die Frage, ob dieser Mythos ein echtes "Zeugnis persischer Religion" ist. Dazu zeichnet Nieschler genau die Interpretationsgeschichte zu diesem Text nach, die 1778 mit einem substanziellen Beitrag des Göttinger "Professors der Weltweisheit" Christoph Meiners beginnt und bis heute andauert (26-37). Anschließend unterzieht Nieschler die Ansicht, "dass Dions Bild vom kosmischen Gespann des Zeus persischen Ursprungs sein könnte" (37), einer kritischen Prüfung, weil ihr diese Auffassung "im Gegensatz zu anderen Elementen, die man für echt-persisch halten wollte, noch nicht hinreichend widerlegt worden zu sein" scheint (ebd.), und kommt zu dem Ergebnis, "dass nichts für einen persischen Ursprung von Dions Bild des kosmischen Zeus-Gespanns spricht" (42) und als Vorbild dafür das mythische Gespann in Platons Phaidros völlig genügt (42-46). Für das in der Einleitung des Mythos geschilderte Offenbarungserlebnis Zoroasters kann Nieschler zeigen, dass Dion diese "Geschichte aus Nachrichten zusammengesetzt haben [kann], die die Persertradition der Griechen und Römer selbst bieten konnte" (53), und "dass Dions Einfall, die Kosmologie der Stoa mit den persischen Magiern zu verbinden, hinreichend damit erklärt werden [kann], dass sich die Magier auf eine durchschaubare Weise angeboten haben". (55) Sodann zeigt sie, dass gerade die Einleitung des Mythos ganz im Stil der Beglaubigungsfiktionen platonischer Mythen gehalten ist, wie sie sich dann auch bei Plutarchs Mythen und im pseudoplatonischen Axiochos finden (56-67). Schon gegen Ende dieses Abschnitts weist sie mehrfach auf Dions "spielerisches" und "nicht ganz ernstgemeintes" Vorgehen (64, 66) hin; im nächsten Abschnitt ("Ein platonischer Höhenflug ohne philosophischen Ernst", 67-75) lässt sie dann endgültig die Katze aus dem Sack: Es sei Dion "allein um ein unterhaltsames Feuerwerk bizarrer Einfälle und um ein rauschendes Finale seiner Rede" gegangen (67); hier arbeitet sie vor allem die zahlreichen Unstimmigkeiten im Gespann-Bild gut heraus.
Der folgende Abschnitt (76-81) wird seiner Überschrift ("Die Rolle des Mythos und der ihm vorausgehenden Redeteile") nicht ganz gerecht: Der Mythos wird hier noch einmal als "Glanzstück und rauschendes Finale einer deklamatorischen Darbietung" (77) charakterisiert, und Nieschler versucht, auch in den vorangehenden Partien von Dions Rede Spielerisches und Unernstes zu entdecken. Dabei schießt sie gelegentlich wohl etwas übers Ziel hinaus, z.B. wenn sie die Vermutung äußert, "dass Dion sich die Borystheniten in seinem Sinne zurechtgestellt hat und ihre Zuhörerschaft eine Fiktion ist" (79) - sollen wir also annehmen, dass auch das von Dion geschilderte Setting in Olbia reine Erfindung ist? Doch rudert sie anschließend wieder etwas zurück: "Dass die Charakterisierung der Borystheniten und ihrer Rolle als Publikum von Dions Rede fiktiv ist, spricht nicht dagegen, dass Dion wirklich in Olbia gewesen ist und er [...] ein halbwegs realistisches Bild vom Zustand der Stadt bietet". (80) Auch beim letzten Abschnitt dieses Einleitungsteils ("Die Schwierigkeiten einer politischen Deutung des Borysthenitikos", 81-90) bleiben Fragen: Nieschler kann überzeugend darlegen, dass von Arnims politische Deutung mit dem Inhalt von Dions Text nicht gut zusammengeht. Weniger überzeugend ist ihre Ansicht, dass auch die Deutung Braunds und anderer - die in der ständigen Gefährdung Olbias durch äußere Feinde eine Art Appell Dions an seine Heimatstadt Prusa, aber auch andere zeitgenössische griechische Poleis sehen möchten, ihre lächerlichen internen Zwistigkeiten beizulegen - nicht einmal implizit in Dions Text präsent ist. Zu schnell wischt sie hier Braunds Hinweis auf eine Macrobius-Stelle (Sat. 1,11,33) beiseite: Die dort von den Borystheniten unternommenen Maßnahmen zur Abwehr äußerer Feinde setzen eine im Inneren geeinte Stadt voraus. Mit Dion kommt in der Tat die zeitgenössische Zweite Sophistik - mit ihrer Freude an gehobener Unterhaltung durch Deklamationen - in ein Olbia, das geradezu als Survival einer archaischen griechischen Kolonie und Vorposten in nichtgriechischem Umland gezeichnet ist; aber warum sollte Dion seine Schilderung von seinem Besuch nicht auch als eine Art Ermahnung an die satten Griechen unter römischer Oberherrschaft verstanden haben?
Der Kommentar (91-305) ist die pièce de résistance des Buches. Hier ist jedes inhaltliche Detail auf neuestem Forschungsstand erläutert und jedes Textproblem - unter kritischer Sichtung aller bisher gemachten Vorschläge - eingehend besprochen. Einzelnes kann aus Platzgründen hier nicht ausgeführt werden; aber es sei darauf hingewiesen, dass Nieschler sich - bei entsprechend vertrackter Sachlage - auch nicht davor scheut, ein Non liquet auszusprechen (z.B. im Fall der textlich ungemein schwierigen zweiten Hälfte von Kap. 10; dazu 128-133). Nonnumquam grammatica est etiam ars nesciendi.
Zwei Appendizes runden das Buch ab. Im ersten Appendix (306-315) zu dem bzw. den Namen der von Dion besuchten Stadt kann Nieschler zeigen, dass die Auffassung, nach der "Borysthenes" seit Herodot die Bezeichnung ist, die der Stadt von außen gegeben wurde, während die Bürger selbst ihre Stadt "Olbia" nannten, die richtige ist. Der zweite Appendix (316-324) behandelt die Frage, wann Dion Olbia besuchte; hier versucht Nieschler nachzuweisen, dass der Besuch in Dions Verbannungszeit stattfand, und zwar bald nach deren Beginn (der Rezensent hat bisher mehr für deren Schlussphase optiert). Auch wenn man aber die Worte μετὰ τὴν φυγὴν (in Kap. 1) hält und als "nach dem Verbannungsurteil" versteht (was Nieschler plausibel macht), ist damit nicht erwiesen, dass Dions Aufenthalt bald nach diesem Urteil stattfand.
Insgesamt liegen mit diesem Buch eine Einführung und ein Kommentar zu einer wichtigen Rede Dions von Prusa vor, die von allen konsultiert werden müssen, die sich künftig mit dieser Rede befassen wollen.
Anna Nieschler: Der Borysthenitikos des Dion von Prusa. Einleitung und Kommentar (= Palingenesia. Schriftenreihe für Klassische Altertumswissenschaft; Bd. 138), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2024, 343 S., ISBN 978-3-515-13681-5, EUR 68,00
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