sehepunkte 24 (2024), Nr. 9

Piotr Szlanta: Der »Polenfresser« gegen die »Reichsfeinde«

Die "Polenfrage" ist eines der wichtigsten Problemfelder in der Geschichte des Deutschen Kaiserreiches. Die Frage, wie mit der polnischsprachigen Bevölkerung in den preußischen Provinzen vor allem im Osten des Reiches, aber auch im Ruhrgebiet umzugehen sei, zog sich wie ein roter Faden durch die politischen Entscheidungen der staatlichen Institutionen: Sind die Polen loyale Untertanen oder streben sie ausschließlich nach der Wiedererrichtung ihres eigenen Staatswesens? Können sie für den preußischen Staat gewonnen werden oder müssen ihre Ambitionen zur Bewahrung der nationalen Eigenart entschieden zurückgedrängt werden, weil sie dem deutschen Anspruch auf die gemischtsprachigen Territorien entgegenstehen? Piotr Szlanta fokussiert sich in seiner Studie [1] auf das Verhältnis der polnischen Untertanen zu ihrem monarchischen Oberhaupt Kaiser Wilhelm II. und untersucht auf verschiedenen Ebenen, wie es sich entwickelte.

Einleitend skizziert der Verfasser die in den letzten Jahrzehnten gewonnenen Forschungserkenntnisse zu Person und Amtsführung des letzten deutschen Kaisers und beschreibt einzelne schwierige Dispositionen in dessen Charakter, die sich in besonderer Weise auf das Verhältnis zu den Polen auswirken sollten. Die Erwartungen der polnischen Gemeinschaft zum Amtsantritt Wilhelms II. waren vorsichtig abwartend, denn die ersten Personalentscheidungen des Kaisers signalisierten eher eine Kontinuität der antipolnischen Politik als einen liberalen Aufbruch. Die Entlassung des bei den Polen verhassten Otto von Bismarck jedoch schien neue Optionen zu eröffnen, und einzelne polnische Politiker setzten in ihren Bemühungen um eine Versöhnungspolitik ebenfalls darauf, bei dem Monarchen Gehör zu finden. Des Kaisers aggressive Rhetorik bei seinen öffentlichen Reden in Thorn oder Marienburg stieß jedoch die wohlwollenden Polen vor den Kopf und bestätigte die skeptischen in ihrer Haltung.

Neben diesen Reaktionen beschäftigt sich Szlanta mit den Polen in der unmittelbaren Umgebung des Monarchen. Außer den bekannten polnischen Mitgliedern des preußischen Herrenhauses Graf Bogdan von Hutten-Czapski und Hugo Radoliński (Hugo von Radolin), der zwischen seiner polnischen Herkunft und seiner deutschen Sozialisation mäanderte, nennt er die beiden Maler Wojciech Kossak und Julian Fałat, die unmittelbaren Zugang zum Kaiser hatten und wiederholt anerkennend von ihm angesprochen wurden. Nachhaltigen Einfluss auf die Meinung des Monarchen gewannen sie jedoch nicht. Mit Kossak kam es nach der Marienburger Rede 1902, bei der Wilhelm mit scharfen Worten den "Übermut des Polentums" rügte, zum Zerwürfnis, was den Kaiser offenbar in seiner Ablehnung alles Slawischen bestärkte. Diese Grundhaltung führt der Verfasser auf die enge Beziehung Wilhelms II. zu Houston Stewart Chamberlain und dessen rassistischer Ideologie zurück, wenngleich er nicht vertiefend auf diesen Gedanken eingeht.

Besonderes Augenmerk richtet der Verfasser auf die Reaktionen der polnischen Bevölkerung auf die Feierlichkeiten am kaiserlichen Hof. Dabei beschäftigt er sich nicht nur intensiv mit dem Verhalten des in offiziellen Stellungen befindlichen Adels, sondern auch mit den Reaktionen der lokalen Vertreter von Handel und Gewerbe. Den Boykottaufrufen der polnischen Vereine anlässlich der Kaisertage oder anderer Festlichkeiten rund um die kaiserliche Familie folgten keineswegs alle Polen. Es waren vor allem die Frisöre, die den Boykott ignorierten, denn gerade sie dürften im Vorfeld solcher gesellschaftlichen Ereignisse einen guten Umsatz erzielt und den wirtschaftlichen Interessen Vorrang vor den nationalen eingeräumt haben. Damit spricht der Verfasser auch die Zweifel und durchaus nicht immer nur antipreußischen/antideutschen Ansichten der Polen an. Trotzdem wurden sie vom Monarchen pauschal als "Reichsfeinde" stigmatisiert. Sein Blick bleibt dabei nicht auf die polnische Gemeinschaft im preußischen Teilgebiet beschränkt, sondern rezipiert auch die Reaktionen und Einschätzungen aus dem russischen Königreich Polen, speziell Warschau, und dem österreichischen Galizien. Aus der Zusammenstellung geht sehr deutlich hervor, wie der Kaiser in den Augen der polnischen Bevölkerung kontinuierlich an Legitimität verlor. Die Karikaturen aus der polnischen Presse, mit denen der Verfasser seine Studie ergänzt hat, veranschaulichen dies in gelungener Weise und runden diese glänzend geschriebene, von Matthias Barelkowski kongenial übersetzte und gut lektorierte Studie ab. Einzelne Zitate als Kapitelüberschriften sind zwar irreführend und umreißen eher die zeitgenössische Stimmung als den Inhalt des folgenden Kapitels, aber das tut dem Gesamteindruck keinen Abbruch. Es ist ein ansprechendes, sehr gut lesbares und solide recherchiertes Werk, das die Forschungen zu der grundlegenden Frage der Position der polnischen Minderheit im Deutschen Kaiserreich um einen wichtigen Aspekt erweitert.


Anmerkung:

[1] Polnische Fassung: Piotr Szlanta: "Polakożerca" kontra "wrogowie Rzeszy". Cesarz Wilhelm II i Polacy 1888-1918, Warszawa 2019.

Rezension über:

Piotr Szlanta: Der »Polenfresser« gegen die »Reichsfeinde«. Kaiser Wilhelm II. und die Polen 1888-1918. Aus dem Polnischen von Matthias Barelkowski (= Polnische Profile; Bd. 14), Wiesbaden: Harrassowitz 2022, VI + 236 S., ISBN 978-3-447-11915-3, EUR 22,00

Rezension von:
Sabine Grabowski
Düsseldorf
Empfohlene Zitierweise:
Sabine Grabowski: Rezension von: Piotr Szlanta: Der »Polenfresser« gegen die »Reichsfeinde«. Kaiser Wilhelm II. und die Polen 1888-1918. Aus dem Polnischen von Matthias Barelkowski , Wiesbaden: Harrassowitz 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/09/39593.html


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