sehepunkte 24 (2024), Nr. 10

Jakob Filonik / Christine Plastow / Rachel Zelnick-Abramovitz (eds.): Citizenship in Antiquity

Der schwergewichtige Band ist aus einer Tagung am UCL hervorgegangen, auf der ein möglichst facettenreicher Zugriff auf ein Thema angestrebt wurde, das in der Althistorie einen 'Klassiker' darstellt, zugleich mit Blick auf Moderne und Gegenwart in verschiedenen Disziplinen neu diskutiert wird. Wie in mehreren Beiträgen wird auch in der Einleitung der Herausgeber (1-22) ein breiter, inklusiver Begriff von "citizenship" beworben, der nicht binär ist (Bürger - Nicht-Bürger), vielmehr eine Vielzahl von Zwischenpositionen und möglichen strukturierenden Definitionen umfasst; die Rede ist von "manifold meanings, ways of defining the concept, and practice of citizenship or belonging" (10). Das folgt gewiss (auch) heutigen Orientierungsbedürfnissen in Gesellschaften, die von Mobilität und Migration geprägt sind und in denen der einst rechtlich trennscharfe Bürgerbegriff faktisch aufgelöst ist - wenn der Bundespräsident von "Mitbürgerinnen und Mitbürgern" spricht, richtet er sich an alle, die länger in Deutschland leben, ob mit deutschem Pass oder ohne; das politische System überspielt hier ganz klar das juristische. Fraglich erscheint jedoch, welcher Gewinn erwächst, wenn der in der westlichen Tradition über mehr als zweieinhalb Jahrtausende emphatisch verstandene, oft mühsam erkämpfte und mit Stolz getragene Status eines Bürgers all dieser historischen, auch Differenzen sichtbar machenden Qualitäten entkleidet und mit dem soziologischen Begriff der Zugehörigkeit gleichgesetzt wird. Letzterer vermag die Vielfalt der tatsächlichen Verhältnisse, wie sie hier eingefangen sind in den beinahe fünfzig Beiträgen, die zeitlich gesehen vom Alten Orient bis nach Byzanz reichen (und an dieser Stelle selbstverständlich nur in Auswahl erwähnt werden können [1]), ohne Zweifel tadellos zu erfassen, weil er beliebig skalierbar ist - selbst Unfreie gehörten zu einer größeren sozialen Formation ihres unmittelbaren Lebenszusammenhangs (Familie, Haus, Arbeit, Stadt usw.), und diese Zugehörigkeit ist in alltäglichen wie außeralltäglichen Handlungen und Routinen greifbar. Doch den Bürger vom Nicht-Bürger abzugrenzen, über die meist weiterhin gültige Bedingung der Abstammung hinaus, stellt m.E. nach wie vor eine markante historische Leistung im Sinne von rechtlicher und politischer Fixierung, Differenzierung und Institutionalisierung dar. Dies repräsentiert im vorliegenden Band der wie immer materialreiche und sehr klar formulierte Beitrag "Greek citizenship" des 2021 verstorbenen Peter J. Rhodes (36-47); auch Rhodes konstatiert freilich ebenfalls ein "growing interest in places in which and organizations through which people of different statuses could have dealings with one another" (42).

Einen beredten Anwalt findet das erweiterte, praxeologische Konzept "performative citizenship" gleich anschließend in Alain Duplouy ("Language and behaviour in Achaic and Classical Greece", 48-63), der dieses allerdings ausdrücklich als komplementäre Ergänzung zur "legal definition of citizenship rights and duties" versteht (49). Die Stichworte lauten Kultteilnahme, Lebensführung, Habitus, das den Bürgern vorbehaltene Agieren im Gymnasion, generell die "behavioural dimension of relationship with others" (55). Im Einzelfall zu bestimmen ist freilich, wie sehr das aus Sichtbarkeit, Verhalten und Einstellungen definierte schēma eines Bürgers Spielräume ließ; zu erinnern ist an Thuk. 2,37,2 (soziale Kontrolle und Toleranz gegenüber verschiedenen Lebensführungen) sowie an die große Bandbreite von teils doch sehr eigenartigen Verhaltensmustern, wie sie uns in Theophrasts "Charakteren" entgegentreten - und doch waren alle diese Leute unbestritten Bürger Athens!

Bisweilen wird auch in den neuen Paradigmen zu sehr harmonisiert. So subsumiert Guy Bradley ("Politics and citizenship in Etruscan and Italic societies", 577-588) unter den Stichworten Offenheit, Mobilität, Wahlmagistraturen, Mittelschicht und breite Partizipation "a striking correspondence between the organization of all three societies: Roman, Etruscan,and Italic" (584), obwohl nichts dafür spricht, dass in den durchgängig von reichen Oberschichten dominierten Etruskerstädten eine ähnliche bürgerstaatliche Mobilisierung stattgefunden hätte wie in Rom - gerade bei diesem Vergleich käme es auf die Praktiken an, nicht nur auf den institutionellen Rahmen, den der Autor aus dem schwierigen Material zu rekonstruieren sucht. Weniger Risiken eingehen musste Roman Roth, der die Evolution der Bürgerrechts- und Siedlungsformen von der Inkorporierung Veiis bis zum Bundesgenossenkrieg ansprechend mit der Expansion Roms verknüpft (589-603) und anhand der Tribusorganisation als Institutionalisierungsprozess mit weitreichenden Folgen sowohl für die manpower wie für die politische Partizipation erweist. Für die Zeit von der Späten Republik bis in den frühen Prinzipat konzentriert sich Clifford Ando auf die Handhabung des census (616-626), um darüber "the relationship between the powers of government, its knowledge of its subjects, their intersubjective relations, and their subjectivity" (618) in den Blick zu bekommen. Erst der Aufstieg der Juristen in der Späten Republik ermöglichte die Transformation "from citizen as voter, soldier and legislator, to citizen as owner, lessor, purchaser, and contractor" (623). Dieser Prozess sei Ergebnis der imperialen Expansion gewesen und habe nichts mit der Etablierung der Monarchie zu tun gehabt (623f.).

Zweifellos hat das Gesamtbild an Facetten gewonnen, seit auch die Teilhabe von Frauen thematisiert wird, jenseits ihrer bekannten Rollen als Mütter von Bürgern oder als Kultteilnehmerinnen. Im Fall Athen hat Josine Blok dafür die Augen geöffnet [2] (s. im vorliegenden Band: Christopher Joyce, "Could Athenian women be counted as citizens in democratic Athens?", 342-354), doch der Band wartet auch mit weniger erwartbaren Ausleuchtungen auf; s. Barbara Schipani / Ferdinando Ferrai, "Granting citizenship to women in ancient Epirus" (198-208).

Insgesamt generiert die praxeologische und inklusive Akzentuierung des Gegenstandes zahlreiche Varianten von "citizenship" - und trägt wohl gerade deshalb zu einer Entdifferenzierung bei (s.o.). So definiert Eva von Dassow (Citizens and non-citizens in the age of Hammurabi, 81-97) den Begriff durch "prerogatives, responsibilities, ideas of belonging" (84); in der Sache ist dabei von Zugehörigkeitskriterien, Statusfragen und der Teilhabe an gerichtlichen Verfahren in eben diesen Angelegenheiten die Rede. Da es offenbar dafür zuständige Versammlungen gab, kann man Gemeindemitgliedern wohl "participating in collective governance" (87) zusprechen; doch dass "the capacities of the citizenry could also extend to managing their communities' fiscal and political affairs" (94) wird nur behauptet, nicht belegt. Auch N. İlgi Gerçek (Citizenship in Hittite Anatolia, 98-110) räumt ein, dass das Hethitische (ebenso wie das Sumerische und Akkadische) keinen Ausdruck für "Bürger" hatte, beobachtet jedoch "the development of concepts and practices similar to our understanding of citizenship - both in the broad sense of an individual's affiliation with a political community, and in the particular sense of a free member of a polity who possessed certain rights, duties, and privileges in relation to the community or state, and, perhaps more importantly, who participated in its government" (100), etwa bei der Einsetzung eines Königs (102). Großen politischen Einfluss mindestens der merkantilen Oberschicht postuliert Mark Woolmer für phönizische Städte ("The evolution of citizen councils and assemblies in ancient Phoenicia", 111-124). Mit Blick auf Karthago hält Dexter Hoyos ("Citizens and citizenship in pre-Roman Carthage", 505-518) fest, dass "ordinary Carthaginian citizens for most of their history were more ruled than ruling". Im Übrigen habe es über die Jahrhunderte auch auf diesem Feld eine merkliche historische Evolution gegeben - das ist ebenso richtig wie erwartbar.

Kaiserzeit und Spätantike finden gebührende Beachtung, etwa Bürgerrechtsverleihungen in der Diplomatie kleinasiatischer Städte (Lucia Cecchet, 548-563) oder die Constitutio Antoniniana (Arnaud Besson, "Towards Universal Citizenship: the Roman Empire in 212 CE", (652-665). Im Zuge der Christianisierung und der großen Migrationen trat die staatsbürgerliche Zugehörigkeit hinter andere Kriterien (Religion, Ethnizität) zurück. Den Schluss bildet ein knapper kontrastierender Ausblick auf Byzanz (Dion C. Smythe, 707-714).

Ob der Band außerhalb der Altertumswissenschaften zur Kenntnis genommen wird, mag dahinstehen. In jedem Fall bietet er eine umfassende Bilanz, die durch das Nebeneinander verschiedener Paradigmen überzeugt; die meist gut dokumentierten Beiträge stellen jeweils einen guten Einstieg dar, haben aber vielfach auch Kennern etwas zu sagen.


Anmerkung:

[1] Für das Inhaltsverzeichnis siehe: http://bvbr.bib-bvb.de:8991/exlibris/aleph/a24_1/apache_media/9IV1FVYR3HCNNKHVBQUGA8BHA7RQMN.pdf. (4.9.2024).

[2] Josine Blok: Citizenship in Classical Athens, Cambridge / New York 2017.

Rezension über:

Jakob Filonik / Christine Plastow / Rachel Zelnick-Abramovitz (eds.): Citizenship in Antiquity. Civic Communities in the Ancient Mediterranean (= Rewriting Antiquity), London / New York: Routledge 2023, XXIII + 725 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-0-367-68711-3, GBP 190,00

Rezension von:
Uwe Walter
Universität Bielefeld
Empfohlene Zitierweise:
Uwe Walter: Rezension von: Jakob Filonik / Christine Plastow / Rachel Zelnick-Abramovitz (eds.): Citizenship in Antiquity. Civic Communities in the Ancient Mediterranean, London / New York: Routledge 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 10 [15.10.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/10/38556.html


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