sehepunkte 24 (2024), Nr. 11

Eva Lütkemeyer: Wendemanöver

Der Transformationsprozess in Ostdeutschland hat sich in den letzten Jahren zu einem Schwerpunkt der zeithistorischen Forschung entwickelt. Damit einhergehend gewinnt auch das zunächst eher diffuse Bild von der Treuhandanstalt als wesentliche Akteurin deutlich an Kontur und Tiefenschärfe. Nach ersten Studien, etwa von Marcus Böick [1], hat das Projekt "Im Laboratorium der Marktwirtschaft. Zur Geschichte der Treuhandanstalt 1989/90 bis 1994" des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin hieran einen großen Anteil. Die Ergebnisse sind - seit 2022 zeitlich eng getaktet - in zehn Bänden einer Schriftenreihe des Ch. Links Verlags erschienen. Die beteiligten Historikerinnen und Historiker konnten vorzeitig Einsicht in die Treuhandakten des Bundesarchivs nehmen und die Quellen zur Basis weiterer Archivforschungen machen.

Dies trifft gerade auch auf die 2023 veröffentlichte Arbeit "Wendemanöver" der Institutsmitarbeiterin Eva Lütkemeyer zu, mit der sie sich an der Ludwig-Maximilians-Universität München promovierte. Die Autorin untersucht die Transformation am Beispiel der ostdeutschen Werftindustrie. Es handelt sich um eine Branche, die im 20. Jahrhundert ihre Krisenfestigkeit wiederholt unter Beweis stellen musste. Die Konversion auf den zivilen Schiffbau nach beiden Weltkriegen, der Kampf gegen Überkapazitäten in globaler werdenden Märkten sowie die Feinfühligkeit gegenüber den Pulsschlägen der Stahlindustrie sind fest im Erfahrungswissen verankert. Gleichwohl können wenige Großaufträge - bei weitgehend intakten Lieferketten und stabilen (Rohstoff-)Preisen - für einige Jahre Erträge und Arbeitsplätze sichern. Trotz dieser Paradoxie bescheinigt Lütkemeyer den bis heute an der Ostsee überlebenden Werften eine "Dauerkrise" (15), deren Ursprung sie im Systemumbruch von 1989/90 sieht.

Zentrales Anliegen Lütkemeyers ist die Frage, aus welchen ökonomischen und wirtschaftspolitischen Entwicklungen und Entscheidungen sich die "Erwartungshaltungen" der Akteur:innen aus Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit zu Beginn der Privatisierungen der ostdeutschen Werften speisten und wie sie sich bis zum Ende der Wirkungsphase der Treuhandanstalt im Jahr 1994 "entlang komplexer Kooperations- und Konfliktlinien veränderten" (19). Um der Vielschichtigkeit des Prozesses gerecht zu werden, analysiert die Autorin nach der Einleitung Erwartungen, Erwartungstransformationen und Enttäuschungen und verhandelt sie in drei Hauptkapiteln. Mit dieser Methodik und Semantik werden Kernaspekte der Mentalitätsgeschichte adressiert. Zudem lotet Lütkemeyer Handlungsspielräume und Handlungszwänge beim Krisenmanagement aus. Damit verwendet sie klassische Analyseinstrumente der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Dieser mehrgleisige Fokus findet seinen Niederschlag in den ausgewerteten Quellen.

Im ersten Hauptkapitel zeigt Lütkemeyer, dass die im Spätsommer 1990 formulierten Erwartungen der Verantwortlichen der in die Deutsche Maschinen- und Schiffbau AG überführten Werften des früheren Kombinats Schiffbau nur zum Teil auf betriebswirtschaftlichen Fehlannahmen beruhten. So boten Äußerungen aus der westdeutschen Politik zur "ungebremsten Kooperationsbereitschaft" der dortigen Werftindustrie, volle Auftragsbücher sowie die Aussicht auf Umsetzung eines vorgelegten Sanierungskonzepts Anlass für "Zukunftsoptimismus" (139).

Eine solche Zuversicht musste jedoch, wie die Autorin im darauffolgenden Hauptkapitel überzeugend herausarbeitet, zunehmend den rauen Realitäten weichen. Denn die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 sowie verlustbringende Aufträge führten zu der Erkenntnis, dass sich die ostdeutsche Werftindustrie "in einer bestandsgefährdenden Krise befand" (254). Das von einem Widerstreit zwischen Privatisieren und Sanieren überlagerte, "regelrechte Tauziehen um die Ausgestaltung der Transformation" (177) kostete Zeit und Nerven. Treuhand-Präsident Rohwedder erklärte wenige Wochen vor seiner Ermordung durch Attentäter der Rote Armee Fraktion im April 1991, dass die Privatisierung des ehemaligen Schiffbau-Kombinats die Ressourcen seiner Behörde bei weitem übersteigen würde. Zugleich sprach er sich für eine "Solidaraktion" zugunsten der Werften in Mecklenburg-Vorpommern aus. Solche Gedankenspiele alarmierten wiederum die Werftindustrie Nordwestdeutschlands, die sich gegen eine Übernahme der ostdeutschen Betriebe durch den Bremer Vulkan-Konzern zur Wehr setzte. Somit führten "die vielschichtigen Konkurrenzkonstellationen [...] zu einer erheblichen Verkomplizierung des Transformationsprozesses" (215). Der 1992 errungene Kauf von Kernbetrieben durch den Bremer Vulkan, den die Treuhand nach Urteil der Autorin "nicht [...] als Hauptakteur[in]" (255) angebahnt hatte, brachte lediglich eine vorläufige Entscheidung.

Denn diese Minimallösung führte, wie Lütkemeyer im dritten und letzten Hauptkapitel zeigt, in der Folgezeit nicht nur bei der Leitung der Deutsche Maschinen- und Schiffbau AG, sondern vor allem bei den Werftbeschäftigten zu herben Enttäuschungen. Hiermit ging ein "grundlegender Vertrauensverlust in die verantwortlichen Akteure" (271) einher, der von führenden Politikern über die Treuhand bis zu den ehemaligen Kombinatsdirektoren reichte. Erhebliche Kürzungen der Belegschaftszahlen selbst bei geglückten Umstrukturierungen sowie die Insolvenz des größten Investors Bremer Vulkan im Jahr 1996 verdeutlichten eines: "Die Illusion einer abgeschlossenen Transformation" (330).

Insgesamt zieht die Autorin eine eher gemischte Bilanz: Ein Umbruch "ohne historisches Vorbild" (343) sowie die Vielzahl von Akteuren und Erwartungshaltungen erschwerten das Krisenmanagement und damit den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Allerdings, so das Plädoyer Lütkemeyers, lässt sich die Transformation des ehemaligen DDR-Schiffbaus nicht nur als eine "Enttäuschungsgeschichte" (342), beispielsweise der Beschäftigten der Neptunwerft in Rostock, deuten. Denn sie ist zugleich "eine Geschichte des ständigen Neuanfangs" (343).

Lütkemeyers Studie ist sowohl in empirischer als auch in methodisch-theoretischer Hinsicht gut gearbeitet. Allerdings lässt sie eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem "Krisen"-Begriff vermissen. Zwar wird in Anlehnung an Thomas Mergel auf die erfahrungsgeschichtliche Dimension der Krise als "Wahrnehmungsphänomen" hingewiesen. Hingegen bleibt das von Reinhart Koselleck beschriebene Un-Entschiedene und daher nicht per se Negative solcher Situationen und Übergänge unerwähnt. [2] Zudem hätten ein Abgleich mit der von Florian Triebel und Martin Grunert erarbeiteten Typologie (u.a. aus Konversions-, Vertrauens-, Erfolgs- und Führungskrise) und ihre Anwendung auf die "im engeren wirtschaftlichen Sinn" angeführte "Werftenkrise" (24) die Analyse weiter bereichert. [3]

Dieser kritische Entwurf soll die Verdienste der Untersuchung keineswegs schmälern. Schließlich hat Eva Lütkemeyer eine thematisch in vielerlei Hinsicht anschlussfähige, reflektiert analysierende und urteilende sowie auch gut lesbare Arbeit vorgelegt. Die Studie strahlt nicht nur in das wachsende Feld der ostdeutschen Transformationsgeschichte hinein - sie ist auch ein gewinnbringender Beitrag zur noch immer sehr lückenhaften maritimen Wirtschafts- und Zeitgeschichte.


Anmerkungen:

[1] Marcus Böick: Die Treuhand. Idee - Praxis - Erfahrung 1990-1994, Göttingen 2018.

[2] Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1973.

[3] Florian Triebel / Martin Grunert: Krisenerfahrung bei der BMW AG. Zur Typologie des Phänomens Unternehmenskrise, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 47 (2006), 2, 19-30.

Rezension über:

Eva Lütkemeyer: Wendemanöver. Die Transformation der ostdeutschen Werftindustrie 1989/90-1994 (= Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt; Bd. 9), Berlin: Ch. Links Verlag 2023, 376 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-96289-201-2, EUR 30,00

Rezension von:
Thomas Urban
Witten
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Urban: Rezension von: Eva Lütkemeyer: Wendemanöver. Die Transformation der ostdeutschen Werftindustrie 1989/90-1994, Berlin: Ch. Links Verlag 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 11 [15.11.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/11/38793.html


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