Kaum ein anderes Abkommen der jungen Bundesrepublik steht bis heute so sinnbildlich für den im Wortsinn unerreichbaren Versuch die Verbrechen des NS-Staats wiedergutzumachen und Verantwortung zu übernehmen, wie das Luxemburger Abkommen von 1952. Auch hat kein anderes Abkommen ähnlich symbolträchtige Bedeutung erlangt, dass es als "zweiter Gründungsakt der Bundesrepublik" und "zum moralischen Fundament unserer freiheitlichen Demokratie" erklärt wurde. [1] In Israel hingegen hatte die Gesellschaft - wie im Übrigen auch die jüdische Gemeinschaft weltweit - lange Jahre nichts so sehr zerrissen wie die Frage, ob der neugegründete jüdische Staat überhaupt Wiedergutmachungs-Verhandlungen mit Deutschland aufnehmen sollte, konnte und durfte - oder nicht. Für Israel, damals wie heute, eine Angelegenheit von tief- und weitgehender ethischer wie identitätsstiftender Dimension.
Der israelische Historiker Jacob Tovy, der als Dozent an der University of Haifa lehrt, beleuchtet dieses Abwägen, Abtasten und Ringen im Spannungsverhältnis von Schmerz, Religion und Ethik, Diplomatie, Macht- und Realpolitik nüchtern und stringent. Die bereits 2015 im hebräischen Original erschienene Studie wurde nun ins Englische übersetzt und laut Tovy erweitert um eine ausschließlich in der Neuauflage zu findende "wide range of primary sources" (XV), die neue Perspektiven ermögliche, zumal keine andere umfassende Studie zur Thematik vorliege.
Tatsächlich bildet die konzentrierte und kondensierte Fokussierung der konsequent aus den Quellen gearbeiteten Studie auf das mühevolle Zustandekommen des Abkommens aus israelischer und - weiter gefasst - dezidiert jüdischer Perspektive mitunter eine Erweiterung gegenüber solchen Werken, die ebenfalls unter Quellenrückgriff jene Sichtweisen und Hintergründe beleuchten, aber größere oder andere Themenkreise in den Mittelpunkt stellen als Tovy. Erkennbares Ziel seiner Arbeit ist dabei auch, die Charakteristika der unterschiedlichen Forderungen herauszuarbeiten, die von jüdischer Verbandsseite und staatlicherseits von Israel an Deutschland bis zur letztendlichen Aufnahme von Verhandlungen gerichtet werden, ebenso die Frage von Rollenverteilung und Legitimität vor und während der eigentlichen Auseinandersetzung mit der deutschen Seite.
Das Buch gliedert sich nach einer Einleitung, welche die Nachkriegszeit und den Beginn von Anspruchsdiskussionen gegenüber Deutschland skizzenhaft darstellt, in zwölf Kapitel: Chronologisch beginnend mit den ersten Überlegungen in- und außerhalb des neugegründeten israelischen Staates über Forderungen an Deutschland im Jahr 1949 bis zum Abschluss des Abkommens im September 1952 und der sich einige Monate hinziehenden Ratifikation durch die deutsche Seite im Frühjahr 1953. Die ersten neun Kapitel sind auf knapp 200 Seiten dem rund zweieinhalbjährigen "Vorspiel" der Verhandlungen gewidmet, die schließlich im Frühjahr 1952 im niederländischen Wassenaar stattfanden. Detailliert arbeitet Tovy heraus, auf welch schwierigen Vorbedingungen und Prämissen die eigentlichen Verhandlungen ruhten: Es ist eine fast regestenhafte Aufschlüsselung von Voraussetzungen, Ausgangsüberlegungen und -stellungen aller Seiten, wobei der Fokus überdeutlich auf der israelisch-jüdischen Perspektive liegt.
Den akribischen Darstellungen der Abläufe zwischengeschaltet sind Abschnitte, die an neuralgischen Punkten die Chronologie zwar nicht durchbrechen, aber - gleichsam innehaltend - genauer auf Motivations- und Intentionslagen eingehen sowie politisch-diplomatische Beziehungsgeflechte und Verbindungen hervorheben. So beleuchtet beispielsweise Kapitel acht detailliert anhand der sich zu Jahresbeginn 1952 immer stärker zuspitzenden innerisraelischen Debatte die jeweiligen Standpunkte der politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen des Landes. Dies erweist sich für den Leser als sinnvolle Hinführung zu weiteren Entwicklungen und hat auch positive Auswirkungen auf den Lesefluss. Das zehnte und längste Kapitel widmet sich den Verhandlungen in Wassenaar selbst, und ist - wiederum chronologisch - in vier Unterkapitel unterteilt, die die entscheidenden Phasen von Start bis Ende behandeln. Intensität und Dramaturgie der Verhandlungen, insbesondere wenn sie auf ihren kritischen Höhepunkt Mitte Mai 1952 zulaufen, kommen hierbei gut zur Geltung: Einzig die Perspektivgewichtung auf Intentionen und Hintergründe der israelisch-jüdischen Verhandlungsseite lässt mitunter den Blick auf die mindestens ebenso intensiven Auseinandersetzungen auf deutscher Seite außer Acht.
Die Quellendichte ist beachtlich; die überwiegende Verwendung von Unterlagen staatlicher israelischer Archive und weiteren Materials aus Israel unterstreicht, dass der israelisch-jüdische Blickwinkel dominiert. Auf Quellen deutscher Provenienz wurde verzichtet. Daneben hat der Autor israelische Presse- und weitere Medienerzeugnisse ausgewertet, was seine Bemühungen unterstützt, die komplexe zeitgenössische Gemengelage aus Emotion, Diplomatie, Politik und gesellschaftlicher Bedeutung der Verhandlungen in Israel herauszuarbeiten.
Tovys Konzentration auf die Entstehung des Abkommens und die ihm vorausgehenden, vorbereitenden, kontroversen Überlegungen aus überwiegend israelischer Perspektive erzeugen ein intensives Bild der in Israel geführten Debatten über "this momentous affair, which became a watershed moment in the history of the State of Israel and the Jewish people". (327) Dem Autor gelingt es, anschaulich herauszuarbeiten, weshalb das Abkommen, seine Hintergründe und die Art und Weise, wie es verhandelt wurde, über Jahrzehnte und bis heute einen derart zentralen und schmerzhaften Bezugspunkt in der israelischen Gesellschaft bildet. Nach sorgfältiger Abwägung fokussiert sich die Studie am Ende auf die Frage, ob es unter Einbezug aller Argumente politisch und moralisch überhaupt rechtens war, sich auf die Verhandlungen einzulassen, und kommt zu einem eindeutigen Schluss: "From a critical historical perspective, it appears that the Israeli leadership's determination to obtain the reparations funds was justified. The sovereign Jewish polity was formed under impossible conditions [...]. The reparations from West Germany were a way to ensure that this historic-political experiment would succeed." (337)
Die englische Übersetzung der ursprünglichen Arbeit ist zweifellos eine wichtige Hilfestellung, die von Tovy herausgearbeitete, kondensierte Perspektive auch über Israel hinaus noch stärker darzustellen. Hinsichtlich der eingangs hervorgehobenen Bedeutung des Abkommens hierzulande wird der Blick dafür geschärft, dass die deutsche Vergangenheit und die Art und Weise des Umgangs mit ihr bis heute und auch in Zukunft nicht nur Deutschland und Deutsche betrifft, sondern auch nach Jahrzehnten in Israel und weltweit wirkt.
Anmerkung:
[1] Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz beim Gedenkakt der Bundesregierung am 15. September 2022 im Jüdischen Museum in Berlin, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Video-Textfassungen/2022/textfassung-2022-09-15-gedenkveranstaltung.html (zuletzt aufgerufen am 30.9.2023).
Jacob Tovy: Israel and the Question of Reparations from Germany. Post-Holocaust Reckonings (1949-1953), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, XII + 362 S., 43 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-099579-4, EUR 94,95
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