Quellen sind ein grundlegendes Element des wissenschaftsorientierten Geschichtsunterrichts und stellen in der Geschichtswissenschaft die Basis für die Rekonstruktion von vergangenem Geschehen dar, ohne dass dabei der Anspruch erhoben wird, dass die aus Quellen konstruierten Erzählungen gesicherte und eindeutige Aussagen zulassen. Insofern ist die inhaltliche Beschäftigung mit Quellen und die Überprüfung der daraus entstandenen Deutungen ein unhintergehbarer Standard für die geschichtswissenschaftliche Forschung. Dies gilt auch für die Geschichtsdidaktik, die mit Hilfe von Quellenarbeit historisches Denken fördern will, was wiederum durch die Quellenauswahl im Schulbuch sichergestellt werden soll.
Das vorliegende Buch beschäftigt sich vor diesem Hintergrund mit der Frage nach einem "heimlichen Quellenkanon", der insbesondere über Schulbücher und andere Medien der Geschichtskultur tradiert wird. Gemeint sind damit - gemäß der Einleitung von Vadim Oswalt - Quellen, die immer wieder als Belege für zentrale Aussagen über ein vergangenes Geschehen herangezogen werden. Ziel der insgesamt zehn Beiträge des Sammelbandes ist es, beispielhaft "Quellenkarrieren zu verfolgen" (15) und damit "alte und vertraute Bekannte [...] neu zu befragen" (15), um dadurch neue Perspektiven auf bisherige Deutungen zu eröffnen sowie Erklärungsansätze zu finden, warum gerade diese "eine" Quelle so langlebig im Schulbuch und in anderen Medien der Geschichtskultur genutzt wird.
In den zehn Beiträgen des Buches wird dementsprechend jeweils eine Quelle in den Mittelpunkt gestellt, die offensichtlich die nicht näher definierten Kriterien der Kanonzugehörigkeit erfüllt. Aus dem Bereich der Alten Geschichte setzt sich zunächst Karen Piepenbrink gewinnbringend und im Sinne der in der Einleitung aufgeworfenen Fragestellungen mit dem Toleranzedikt von Mailand auseinander, das gemeinhin als das Dokument angesehen wird, mit dem Konstantin der Große den Christinnen und Christen im Römischen Reich Toleranz in der Religionsausübung gewährt hat. Diese Deutung wurde bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hinterfragt (31), ohne dass dies jedoch etwas an der populären Wahrnehmung der Quelle als "Toleranzedikt" geändert hätte. Auch der Beitrag von Stefan Tebruck zu dem von Robert von Reims verfassten Bericht zum Kreuzzugsaufruf Papst Urbans II. überzeugt. Ergiebig ist hier der Blick auf die insgesamt vier weiteren Quellen, die über den Kreuzzugsaufruf berichten, die aber lange Zeit in Schulbüchern und in populären Darstellungen des Geschehens wenig Berücksichtigung fanden, obwohl sie deutlich machen, dass das vergangene Geschehen gerade wegen der Unterschiedlichkeit der überlieferten Quellenaussagen nicht klar nachgezeichnet werden kann. Vadim Oswalts Überlegungen zur Ebstorfer Weltkarte weisen dagegen weniger auf alternative Überlieferungen oder Deutungsdifferenzen für die über die Ebstorfer Karte transportierten christlichen und eurozentrischen Vorstellungswelten hin, sondern regen insgesamt dazu an, ein erweitertes Interpretationsspektrum auf die Karte anzuwenden.
Horst Carl beschäftigt sich mit den 12 Artikeln des deutschen Bauernkrieges und zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie viel Potential diese Quelle nach wie vor für das Verständnis der Aufstandsbewegung - auch im Kontext der Reformation - hat. Ebenso zeichnet er kenntnisreich die "Quellenkarriere" der 12 Artikel und deren unterschiedliche Deutung als "revolutionär" oder auch als "Vorläufer der Menschenrechte" in den folgenden Jahrhunderten nach. Das Beispiel verweist damit darauf, dass die intensive Auseinandersetzung mit einer Quelle und ihrer Rezeptionsgeschichte zentral für die Vermittlung von "historischem Denken" ist, da dabei der Konstruktcharakter von Geschichte besonders deutlich hervortritt. Gleichzeitig entsteht - ähnlich wie bei der Ebstorfer Weltkarte - jedoch auch der Eindruck, dass beide Quellen nach wie vor zu Recht als Schlüsselquellen angesehen werden müssen, zu denen es inhaltlich keine Alternativen gibt.
Katharina Stornig hinterfragt im Anschluss die "Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers" (1789) als Ursprung der modernen Menschenrechte. Dabei macht die Quelle sichtbar, wie sehr seit der Schwelle zur Neuzeit die Intermedialität der Quellen berücksichtigt werden muss, wenn man auf ihre Rezeptionsgeschichte blickt. Denn nicht die reine Textfassung der Quelle wird vielfach in populären Medien und Schulbüchern aufgegriffen, sondern die um eine religiös-sakralisierende Symbolik erweiterte bildliche Darstellung des Textes von Le Barbier.
Bezogen auf das 19. und 20. Jahrhundert beschäftigen sich dann in der von den Herausgebern getroffenen Auswahl drei Beiträge mit Bildquellen, einer mit dem Protokoll der Wannsee-Konferenz und der filmischen Aufarbeitung der Konferenz (Ulrike Weckel) sowie einer mit der Peters-Weltkarte von 1973 (David Kuchenbuch). In den drei Beiträgen zu zentralen Bildquellen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gelingt es den jeweiligen Autor*innen - trotz der Bekanntheit der Quellen - aus fachwissenschaftlicher Perspektive neue Blickwinkel zu eröffnen. Bettina Brockmeyer zeigt beispielhaft im Hinblick auf die in der Allgemeinen Illustrierten Zeitung erschienene Zeichnung des Konferenzraumes der Berliner Afrika Konferenz 1884/85, welche falschen Bedeutungszuschreibungen heute - aber auch schon damals - bezogen auf die Annahme einer dort stattfindenden Aufteilung Afrikas existieren. Ebenso lenkt sie den Blick darauf, dass in der Wahrnehmung immer nur das Bild präsent ist, der dazugehörige Artikel der Zeitschrift, für den das Bild ja eigentlich nur als Illustration dient, jedoch ignoriert wird. Mit Gewinn liest man auch den Beitrag von Hans-Jürgen Bömelburg, der die Fotografie von Brandts Kniefall in Warschau 1970 mit einer Reihe neuer Informationen anreichert, die auch für die unterrichtliche Vermittlung Vertiefungsmöglichkeiten bieten. Den Abschluss des Bandes bilden David Kuchenbuchs Überlegungen zur Peters-Weltkarte, bei der es sich um eine grafische Raumdarstellung handelt, die im Kontrast zu den bis in die 70er Jahre üblichen geographischen Weltkarten eurozentrische Grundhaltungen entlarven sollte.
Das Buch liefert die im Untertitel angekündigte Erweiterung der Perspektiven auf Schlüsselquellen der historischen Forschung. Insofern handelt es sich um ein verdienstvolles Werk, das sorgfältige Analysen bereitstellt, eine interessante Lektüre ermöglicht und Denkanstöße initiiert. Für die Schule machen die Aufsätze einmal mehr deutlich, dass eine intensive Auseinandersetzung mit Quellen zwingend erforderlich ist, wenn man die immer wieder als Schlagworte ins Feld geführten didaktischen Zielvorstellungen nach dem "Erkennen des Konstruktcharakters von Geschichte" oder der "Multiperspektivität" ernst nimmt und adäquat im Geschichtsunterricht umsetzen will. Auf die im Obertitel des Buches gestellte interessante Frage "Ein heimlicher Quellenkanon?" erhalten Leser*innen jedoch kaum Antworten. Hier wäre ein Fazit, das die in den Beispielaufsätzen gewonnenen Ergebnisse etwas zu kategorisieren und auszuwerten sucht, sicher nützlich gewesen. Ebenso vermisst man bei der Frage nach einem Quellenkanon beispielsweise eine quantitative Auswertung von Schulbüchern oder populären Medien, die den in den Raum gestellten Quellenkanon empirisch belegt und die Auswahl der Beispielquellen nachvollziehbarer macht. Trotz dieser Desiderate regt der Obertitel des Buches zum Nachdenken an und ermutigt letztendlich zu weiteren Publikationen auf diesem Feld.
Vadim Oswalt / Hannah Ahlheim / Hans-Jürgen Bömelburg u.a. (Hgg.): Ein heimlicher Quellenkanon? Neue Perspektiven auf Dokumente der Geschichte (= Fundus. Quellen für den Geschichtsunterricht), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2024, 224 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1627-9, EUR 26,90
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