Die Deutschen sind stolz auf eine betont kritische Aufarbeitung ihrer Geschichte. Vor diesem Hintergrund sind historische Persönlichkeiten, denen allseits überschwängliche, kaum reflektierte Zuneigung entgegengebracht wird, hierzulande rar. Eine frappierende Ausnahme von diesem Grundsatz stellt Helmut Schmidt dar. Heutigen Politikerinnen und Politikern wird er von den Medien als unerreichbares Vorbild vorgehalten, und jene versuchen auch selbst, sich aktiv als dessen Nacheiferer zu inszenieren - ein Beispiel ist Olaf Scholz. Auch die meisten Biografien, die zu Schmidt in den vergangenen Jahrzehnten erschienen sind, urteilen ausgesprochen wohlwollend über sein Wirken.
Diesem Phänomen widmet sich der hier besprochene Sammelband, welcher auf einer Vortragsreihe der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg von 2022 basiert. Als Herausgeber fungieren der Welt-Journalist Sven Felix Kellerhoff und Helmut Stubbe da Luz, der als Historiker an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr lehrt.
Der Band wendet sich an ein breites Publikum und verzichtet auf einen größeren Anmerkungsapparat oder eine umfassende Bibliografie. Dass es den Herausgebern nicht in erster Linie um eine wissenschaftlich fundierte Einordnung des Wirkens oder der Rezeption Schmidts geht, zeigt bereits die übergeordnete normative Fragestellung nach der Vorbildfunktion Schmidts, die von empirischer Forschung kaum zu beantworten ist und eher gesamtgesellschaftlich diskutiert werden sollte.
Gegenstand des Buches ist die Rolle Schmidts im Zuge zweier zeitgenössisch als krisenhaft wahrgenommener Ereignisse: der Flutkatastrophe in Hamburg im Jahr 1962 sowie der eskalierenden Konfrontation mit der terroristischen Vereinigung Rote Armee Fraktion (RAF) im Jahr 1977. Im Fokus steht außerdem die darauf bezogene Rezeption Schmidts in der Bundesrepublik. Andere wichtige historische Ereignisse und Prozesse, mit denen der ehemalige Bundeskanzler in Verbindung steht, werden dagegen weitgehend ausgeblendet.
Im Sammelband finden sich zehn Beiträge sowie ein Vorwort des FDP-Politikers Gerhart Baum, der unter Schmidt als Innenminister amtierte. Neben Stubbe da Luz und Kellerhoff steuern unter anderem der Schmidt-Biograf Martin Rupps, der zu Heroisierungen und Heroismen forschende Historiker Georg Eckert sowie Vertreter anderer Fachrichtungen wie Juristen, Philosophen, Politologen und Journalisten Aufsätze bei. Außerdem enthält der Sammelband Auszüge aus einer Podiumsdiskussion mit Hanns-Eberhard Schleyer, dem Sohn des 1977 von Terroristen ermordeten Wirtschaftsfunktionärs Hanns-Martin Schleyer, die am 30. Mai 2022 an der Helmut-Schmidt-Universität stattfand.
Auffällig ist, dass das Buch dezidiert aktuelle Bezüge herstellt, wie beispielsweise zum 2024 gegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht oder zu den Kriegen in der Ukraine und Gaza. Mehrfach findet sich die Auffassung, Helmut Schmidt sei zwar in vielem kaum beispielgebend, im Gegensatz zum desaströsen Agieren der heutigen Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker tauge er jedoch durchaus als Vorbild. Diese Einschätzung belegt die bis heute ungebrochene Wirkung des "Schmidt-Mythos" auch bei einigen Autoren des Sammelbands.
Viele Aspekte des Wirkens und der Rezeption Schmidts werden kritisch hinterfragt: So ist es aufschlussreich, dass der Hanseat in seiner Zeit als Bundeskanzler gar nicht sonderlich gut bei Popularitätsumfragen abschnitt, das Image sich erst zum Ende seiner Kanzlerschaft und besonders danach verbesserte. Außerdem wird von verschiedenen Autoren bezweifelt, ob die Sturmflut 1962 und die Entführungen Hanns-Martin Schleyers sowie des Flugzeuges "Landshut" im Jahr 1977 überhaupt als Staatskrisen anzusehen seien, die extreme Maßnahmen gerechtfertigt hätten.
Schmidts Darstellung seines eigenen Handelns im Zuge der Sturmflut in Hamburg wird von Stubbe da Luz problematisiert. Der SPD-Politiker habe erst mit einigem zeitlichen Abstand behauptet, mit seinen angeordneten Maßnahmen, insbesondere der Anforderung von Unterstützungskräften der Bundeswehr, zum Rechtsbruch gezwungen gewesen zu sein. Dieses Narrativ habe Schmidt nachträglich konstruiert, um sich für die Verabschiedung der damals in Bonn umstrittenen Notstandsgesetze einzusetzen. In seinen Handlungen zur Katastrophenabwehr in Hamburg sei allerdings im Wesentlichen gerade kein Rechtsbruch zu konstatieren. (Zumindest der Hinweis darauf, dass der spätere Bundeskanzler zur Zeit der Sturmflut nicht für sich reklamierte, gegen Gesetze verstoßen zu haben, und diese Deutung erst nachträglich vertrat, findet sich bereits in der Schmidt-Biografie von Hartmut Soell. [1])
Beim Umgang der Bundesregierung mit der terroristischen Bedrohung im Jahr 1977 wird die Rolle des Bundesverfassungsgerichts hinterfragt. Dieses hatte schnell Stellung bezogen im Sinne der Haltung des Staates, den Forderungen der Terroristen nicht nachzugeben und dafür den Tod von Geiseln in Kauf zu nehmen. Mehrere Autoren erheben daher den Vorwurf, Karlsruhe habe kaum unabhängig entschieden, da das Gericht sowohl durch die Öffentlichkeit als auch durch Schmidt selbst unter Druck gesetzt worden sei.
Insgesamt zieht sich eine generationengeschichtliche Interpretation des Handelns des SPD-Politikers wie seiner Zeitgenossen durch das Buch: Die Prägung durch den Zweiten Weltkrieg bilde den Schlüssel zum Verständnis, wird immer wieder behauptet. Durch ihre soldatische Vergangenheit hätten Entscheidungsträger jener Zeit über "ausgesprochen gute Nerven" verfügt (109) und "knallhart" gehandelt (219), Schmidt sei aus einem "anderen Holz geschnitzt" als heutige Politikerinnen und Politiker (137). Diese Deutung erinnert an die jüngste Schmidt-Biografie von Martin Rupps [2] und ist in ihrer Vehemenz sicher zu hinterfragen.
Leider beschränkt sich das Buch im Wesentlichen auf die Sturmflut 1962 sowie die Auseinandersetzung mit der RAF 1977. Zwar liegt es auf der Hand, dass sich diese Ereignisse aufgrund der unmittelbaren Gefahr für Menschenleben und der Überschaubarkeit auf der Zeitachse als Gegenstände für ein packendes und leicht verständliches Buch eignen, allerdings wäre es besonders erkenntnisfördernd gewesen, wenn außerdem einige abstraktere politische Prozesse, in denen Schmidt eine bedeutende Rolle spielte, thematisiert worden wären. Zu nennen wären hier etwa die Reformen der Bundeswehr in Schmidts Zeit als Verteidigungsminister (1969-1972) oder der Zusammenbruch der Währungsordnung von Bretton Woods, der Schmidt als Finanzminister (1972-1974) beschäftigte. Dabei soll allerdings ein interessanter Exkurs nicht unerwähnt bleiben, in dem Schmidts Haltung zur Sowjetunion beziehungsweise zu Russland oder zu Israel beleuchtet wird.
Zwar bietet das Buch für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Helmut Schmidt nicht viel Neues. Allerdings ist es ein umso wertvollerer Beitrag zu einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion über die mediale (Selbst-)Darstellung von Politikerinnen und Politikern und die Notwendigkeit von historischen Vorbildern.
Anmerkungen:
[1] Hartmut Soell: Helmut Schmidt. Band 1. Vernunft und Leidenschaft 1918-1969, München 2003, 387-388.
[2] Martin Rupps: Der Lotse. Helmut Schmidt und die Deutschen, Zürich 2015.
Sven Felix Kellerhoff / Helmut Stubbe da Luz (Hgg.): Vorbild Helmut Schmidt? Politische Führung in Krisen und Katastrophen, Hamburg: Verlag E.S. Mittler & Sohn 2024, 299 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-8132-1124-5, EUR 24,95
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