sehepunkte 24 (2024), Nr. 12

Zdeňka Kokošková / Monika Václavíková/Sedláková / Jaroslav Pažout (Hgg.): Die Oberlandratsämter im System der Besatzungsverwaltung des Protektorats Böhmen und Mähren und ihre leitenden Beamten

Das im Herbst 1938 unterzeichnete Münchner Abkommen griff tief in die territoriale Souveränität der Ersten Tschechoslowakischen Republik und bildete zugleich das Fundament für eine zeitnahe vollständige Annexion der Gebiete durch die NS-Regierung. Nach der Errichtung des Protektorats 'Böhmen und Mähren' im März 1939 installierte das nationalsozialistische Regime umgehend einen engmaschigen Verwaltungsapparat, der sich über das gesamte besetzte Gebiet erstreckte. Während sich die oberen Verwaltungsbehörden wie das Amt des Reichsprotektors in Prag konzentrierten, agierten die Oberlandratsämter als regionale Dienststellen und damit als verlängerte Arme der Zentralverwaltung.

Das vorliegende Werk widmet sich der wechselhaften Geschichte der Oberlandratsämter und liefert erstmals gebündelt Informationen zu deren leitenden Beamten. Während Funktion und Entwicklung der Oberlandratsämter bereits in diversen Arbeiten untersucht wurden, liefern die hierzusammengetragenen Dokumente und Analysen zu den einzelnen Beamten in Leitungspositionen wertvolle neue Ansätze für die Forschung. Das Buch ist dank der präzisen Übersetzung aus dem Tschechischen nun auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich und gegliedert sich in vier Abschnitte.

Auf eine ausführliche Quellen- und Literaturanalyse, in der die wichtigsten Publikationen und relevanten Archive genannt werden, folgt eine umfassende historische Einleitung zur Entwicklungsgeschichte der Oberlandratsämter und den biografischen Hintergründen einzelner leitender Beamte. Das Kernstück der Veröffentlichung bilden die Biogramme aller 53 Oberlandräte, die stichwortartig zahlreichen Informationen zu Herkunft, Ausbildung und Karriere der Beamten bündeln. Eine begleitende Edition von 25 Dokumenten stellt die wechselnden Funktionen der Oberlandratsämter und ihr Verhältnis zu anderen Behörden im Protektorat dar. Der umfangreiche Anhang enthält ein Abkürzungsverzeichnis, Ablichtungen einzelner Dokumente, Fotografien repräsentativer Auftritte einiger Oberlandräte, Tabellen zur besseren Übersicht der einzelnen Amtszeiten der Oberlandräte und eine Konkordanz der Ortsnamen. Ebenfalls angefügt sind ein Orts- und Personenregister.

Die Einleitung veranschaulicht die Entwicklung der Oberlandratsämter, deren Etablierung bereits vor der Besatzung des späteren Protektoratsgebietes geplant und nach der militärischen Übernahme der Region umgesetzt wurde. Die Oberlandratsämter fungierten nicht nur als Verwaltungsorgane und damit als erste Anlaufstelle für Reichsdeutsche in dem besetzten Gebiet, sondern auch als Kontrollorgane zur Überwachung der nur augenscheinlich autonomen tschechischen Behörden. Zahlreiche Struktur- und Funktionswechsel, die zwischen Mitte April 1939 und dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft durchgeführt wurden, werden detailliert dargestellt. Die Autorinnen und der Autor gehen neben den maßgeblichen Veränderungen von Größe und Anzahl der Oberlandratsämter auch auf die wechselnden Hauptaufgaben der Behörden ein, die sich nach der Verwaltungsreform 1941 zunehmend zu einem rein politischen Instrument entwickelten.

Eine Analyse der persönlichen Hintergründe und beruflichen Karrieren der Oberlandräte macht zahlreiche Ähnlichkeiten in den Biografien der leitenden Beamten deutlich. Ein Großteil stammte aus dem akademischen Milieu, die meisten waren bereits früh in die NSDAP eingetreten, mehr als zwei Drittel gehörten zudem der SA oder der SS an. Obwohl nicht alle Lebensgeschichten vollständig rekonstruiert werden konnten, werden auch in Bezug auf die Nachkriegskarrieren der Oberlandräte Parallelen aufgezeigt. Zwar wurde gegen die meisten Beamten nach dem Krieg ermittelt, viele von Ihnen konnten aber später in der Bundesrepublik erneut Stellen im öffentlichen Dienst bekleiden.

Die Einleitung schließt mit detaillierten Portraits der einzigen drei Oberlandräte mit tschechoslowakischen Wurzeln. Die sozialen und fachlichen Hintergründe der Beamten unterschieden sich nicht grundlegend von denen der aus dem Altreich stammenden Oberlandräte. Alle waren in wohlhabenden, deutschsprachigen Familien aufgewachsen, seit ihrer Jugend in deutsch-nationalistischen Vereinen aktiv und hatten ein Jurastudium abgeschlossen. Zwei der drei Oberlandräte, Hans Blaschek und Gustav Jonek, profitierten von persönlichen Beziehungen zu Parteifunktionären wie Reinhard Heydrich und Karl Herrmann Frank, die ihnen zu einem schnellen Aufstieg in wichtige Ämter verhalfen.

Die Biogramme der 53 Oberlandräte fassen stichwortartig die Lebenswege der Beamten zusammen. Die tabellarisch aufgebauten Profile enthalten unter anderem Informationen zu Bildungsabschlüssen, beruflichen Tätigkeiten und Parteimitgliedschaften sowie geleistetem Wehrdienst. In einigen Fällen sind zudem Lichtbilder und ergänzende Informationen hinterlegt, die nicht in die standardisierten Kategorien fallen. Hinweise auf die zugrundeliegenden Archivalien, gedruckte und veröffentlichte Quellen und relevante Forschungsliteratur sind den einzelnen Profilen direkt zugeordnet. Bis auf kleinere Ungenauigkeiten, beispielsweise bei der Aufzählung der Amtsbezeichnungen, liefern die Informationen eine gute Übersicht und stellen ein hilfreiches Werkzeug dar.

Die begleitende Edition bündelt wichtige Quellen zur Entwicklung der Oberlandratsämter. Ein Großteil der 25 Dokumente stammt aus dem Bestand des Tschechischen Nationalarchivs in Prag. Die Auswahl ist chronologisch geordnet und zeigt die verwaltungspolitischen Hintergründe der personellen und organisatorischen Entwicklungen der Oberlandratsämter auf.

Insgesamt liefert das hier besprochene Werk einen guten Überblick über die Entwicklungsgeschichte der Oberlandratsämter im Protektorat 'Böhmen und Mähren' und zeichnet sich vor allem durch die Auseinandersetzung mit der personellen Besetzung der Oberlandratsämter aus. Präsentiert werden erstmals personenbezogene Informationen zu sozialer Herkunft, Ausbildung und Nachkriegskarrieren aller 53 Oberlandräte. Zudem beleuchten drei Kurzbiografien die Lebenswege der einzigen Oberlandräte mit Wurzeln in den böhmischen Ländern. Die sorgfältig zusammengestellten Biogramme und Dokumente schaffen hierdurch nicht nur ein Fundament für weitere regional- und verwaltungsgeschichtliche Forschung zu den Oberlandratsämtern, sondern sind auch für die Analyse der Germanisierungs- und Besatzungsstrategie im Protektorat von Interesse.

Rezension über:

Zdeňka Kokošková / Monika Václavíková/Sedláková / Jaroslav Pažout (Hgg.): Die Oberlandratsämter im System der Besatzungsverwaltung des Protektorats Böhmen und Mähren und ihre leitenden Beamten. Aus dem Tschechischen übersetzt von Jan Vondráček (= Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas; 10), Marburg: Herder-Institut 2022, VI + 318 S., ISBN 978-3-87969-473-0, EUR 56,00

Rezension von:
Leonie Rogg
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Leonie Rogg: Rezension von: Zdeňka Kokošková / Monika Václavíková/Sedláková / Jaroslav Pažout (Hgg.): Die Oberlandratsämter im System der Besatzungsverwaltung des Protektorats Böhmen und Mähren und ihre leitenden Beamten. Aus dem Tschechischen übersetzt von Jan Vondráček, Marburg: Herder-Institut 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 12 [15.12.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/12/39471.html


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