sehepunkte 25 (2025), Nr. 1

Raimund Schulz / Uwe Walter: Griechische Geschichte, ca. 800-322 v. Chr.

42 Jahre nach dem Erscheinen von OGG 1 (ab Auflage 6: 1a) liegt nun mit OGG 50 ein neues Handbuch zur griechischen Geschichte in der Reihe vor, das eine Langzeitperspektive einnehmend die griechische Welt von der Früharchaik bis zum Beginn des Hellenismus in den Blick nimmt. Seit Wolfgang Schullers Band aus dem Jahr 1980 hat sich viel verändert: Der Oldenbourg Verlag ist Geschichte, die Reihe erscheint mittlerweile bei De Gruyter, das Forschungsfeld hat sich erheblich ausdifferenziert und der neue Titel umfasst über 600 Seiten aufgeteilt auf zwei Bände, während Schuller noch mit gut 270 Seiten ausgekommen ist. Der Zuwachs ist freilich nicht dem bloßen Mitteilungsbedürfnis der Autoren geschuldet, sondern ist zum einen die Konsequenz aus der Zunahme von Themen und Forschungsansätzen, zum anderen aus einem Wissenszuwachs über Poleis jenseits von Athen und Sparta.

Diese Erweiterung des Kenntnistandes schlägt sich dann auch deutlich in der Konzeption des Buches nieder. Nach einem kurzen Rekurs auf die großen Traditionslinien zur griechischen Geschichte beginnen Schulz und Walter die eigentliche Darstellung mit dem Großkapitel "Grundstrukturen und Basisprozesse", das wiederum in zahlreiche Unterkapitel zerfällt, mit denen die Autoren versuchen, die Erkenntnisse aus zahlreichen Detailstudien insbesondere zur Archaischen Zeit, etwa zu Nachbarschaft, Dorfgemeinschaft und Oikoswirtschaft, Eliten, sozialer Schichtung und Distinktion oder Migration und Mobilität, sinnstiftend zu ordnen. Das ist keine leichte Aufgabe, zumal gerade die griechische Frühgeschichte als Forschungslandschaft in hohem Maße fragmentiert ist. [1] Erschwert wird das Erreichen dieses Ziels dadurch, dass auch schon zu Schullers Zeiten debattierte Grundstrukturen, wie die Herausbildung politischer Institutionen, das Entstehen des politischen Denkens oder die Ordnungsmodelle der Polis ebenfalls aufgegriffen werden müssen. Zwei Bezugsgrößen dienen den Autoren hierbei als Orientierungshilfe: zum einen die im ersten Kapitel ausgebreiteten Traditionslinien der Forschung, zum anderen die Chronologie, die sie freilich streckenweise immer wieder verlassen müssen. Dieser Ansatz funktioniert über weite Strecken gut und liest sich angenehm, auch weil die Klassiker wie Curtius, Beloch, Berve oder Heuss mit all ihrer Wortgewalt zum Sprechen gebracht werden, wovon ausgehend dann aktuellere Forschungsrichtungen gewürdigt werden. Man merkt Schulz und Walter ihre Bewunderung der Altvorderen an, die sie allerdings nicht unkritisch gegenüber deren Werken werden lässt. [2] Dieses Traditionsbewusstsein kommt auch an anderer Stelle zum Ausdruck, insofern die Autoren den Gegenstand "Griechische Geschichte" teils vehement gegen Dekonstruktionsversuche verteidigen. [3]

Der Zugriff auf die archaische Zeit ist im Wesentlichen strukturgeschichtlich, das heißt, der Entstehung und der Transformation gesellschaftlicher und politischer Ordnungen räumen die Autoren am meisten Raum ein, was angesichts der dominanten Forschungsrichtungen der letzten Jahrzehnte nach wie vor gerechtfertigt ist. Die folgenden beiden Kapitel sind dann stärker ereignisgeschichtlich orientiert und bauen auf den zuvor gelegten Grundlagen auf.

Der immense Wissenszuwachs über Poleis jenseits von Athen und Sparta wird im folgenden Großkapitel am deutlichsten, das mit "Facetten der griechischen Staatenwelt" überschrieben ist und neben den obligatorischen Passagen zu den beiden Poleis, die in der schriftlichen Überlieferung alles überstrahlen, Kapitel zur Delphischen Amphiktyonie, Korinth, Theben und Boiotien, Milet und Ionien sowie zu Massalia und Syrakus enthält.

Auch im Forschungsteil (Band II) vertreten Schulz und Walter ihre Standpunkte mit Nachdruck und bisweilen pointiert. [4] Ihre Darstellung folgt auch hier einem Muster, in dem sich ihre Vorliebe für die zumeist deutschsprachigen Klassiker widerspiegelt: Diese bilden meist den Ausgangspunkt, wie auch die deutschsprachige Forschung als Richtschnur dient, von der ausgehend die Autoren in die anderen drei der vier Hauptsprachen der Altertumswissenschaft, also Englisch, Französisch und Italienisch, blicken. Damit gelingt es ihnen, komplexe Entwicklungen und eine, weil weitverzweigte, unübersichtlich gewordene Forschungslandschaft sinnvoll zu ordnen. Wie bei jeder Ordnung steckt hierin auch eine Schwerpunktsetzung. Im Kapitel zur Militärgeschichte wird besonders deutlich, dass dieses Vorgehen nicht ohne Weiteres naheliegend erscheint: Dort weisen die Autoren zurecht darauf hin, dass dieses Forschungsfeld aufgrund der jüngeren deutschen Geschichte hierzulande weitestgehend vernachlässigt wurde. Sie beginnen dann dennoch mit einer recht ausführlichen Nachlese von Autoren wie Hans Delbrück, was man angesichts des konstitutiven Charakters dieser älteren Arbeiten für das Forschungsfeld allerdings rechtfertigen kann. (II, 115-125).

Uneingeschränkt überzeugen die für den zweiten Band charakteristischen Passagen, in denen es den Autoren meisterhaft gelingt, hochkomplexe Forschungsdebatten sowohl knapp als auch klar und verständlich zu erläutern, wovon etwa die sorgsam aufgearbeitete Debatte um die Charakterisierung der Athenischen Vormachtstellung im 'Seebund', also der Frage nach symmachía oder arché (und weiterführend nach der Wertung des politischen Gebildes in den jeweiligen Forschungstraditionen als Seebund, Athenian Empire oder Greater Athenian State) kündet (II, 241-243).

Schulz und Walter haben in beeindruckender Detailarbeit ein kenntnisreiches Überblickswerk vorgelegt, das in einer unübersichtlich gewordenen Forschungslandschaft Orientierung zu schaffen vermag. Zugleich ziehen die Autoren Bilanz und hinterfragen einige Entwicklungen kritisch. Besonders geeignet ist es für Masterstudenten, aber auch für Forscher, die sich einen thematischen Überblick verschaffen möchten, während Proseminaristen zusätzliche Anleitung benötigen dürften. Insbesondere die ausführliche Bibliographie und der detaillierte Forschungsüberblick erlauben ein zügiges Einarbeiten und besitzen - trotz zahlreicher vor allem englischsprachiger Companions - einen großen Mehrwert, insbesondere weil die deutschsprachige Forschung dort nicht immer angemessen rezipiert wurde. Schulz und Walters Buch wird daher für die kommenden Jahre ein wichtiges Referenzwerk für die Griechische Geschichte sein.


Anmerkungen:

[1] Vergleiche zum Beispiel Dominik Delp: Zwischen Ansässigkeit und Mobilität. Die sogenannte Große Kolonisation der Griechen aus migrationstheoretischer Perspektive, Göttingen 2022, 19-22.

[2] Vergleiche zum Beispiel die Kritik an der auf Heuss zurückgehenden Kriegsmüdigkeitsthese: II, 268-269.

[3] Zum Beispiel: I, 5-6.

[4] II, 7: "Hier geht es - nach zahlreichen kulturalistischen turns, in deren Verlauf die Geschichte zunehmend in Diskurse aufgelöst zu werden schien - durchaus wieder um harte Fakten [...]."

Rezension über:

Raimund Schulz / Uwe Walter: Griechische Geschichte, ca. 800-322 v. Chr. Band 1: Darstellung + Band 2: Forschung und Literatur (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte; Bd. 50), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, XV + 656 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-58831-6, EUR 24,95

Rezension von:
Dominik Delp
Eberhard Karls Universität, Tübingen
Empfohlene Zitierweise:
Dominik Delp: Rezension von: Raimund Schulz / Uwe Walter: Griechische Geschichte, ca. 800-322 v. Chr. Band 1: Darstellung + Band 2: Forschung und Literatur, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 1 [15.01.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/01/38682.html


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