Im Jahr 2021 wurde das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" begangen. Dieser Anlass erinnerte einerseits an die jahrhundertealte Existenz jüdischen Lebens in Deutschland und Europa, andererseits an seine systematische Vernichtung sowie die materielle Zerstörung seines kulturellen und religiösen Erbes.
Es ist gerade diese Spannung in der öffentlich-kollektiven Erinnerung im Jahr 2021, die auch Peter Seibert, Literatur- und Medienhistoriker, zum kritischen Ausgangspunkt seiner Reflexionen in seinem jüngst erschienenen Buch nimmt.
Seibert, der seine Studie weniger als einen "akademisch-wissenschaftlichen" denn als einen "politischen" Beitrag verstehen will (17), verbindet dabei erinnerungspolitische Fragen mit bau-, architektur- und materialgeschichtlichen Aspekten jüdischer Kultur und Geschichte. Dabei zieht sich die von ihm als "politisch" beschriebene Dimension wie ein roter Faden durch das Buch, indem er konsequent eine deutsch-jüdische Kontinuitätsgeschichte anderer Art erzählt: Es ist die Kontinuität des willentlichen, antisemitisch motivierten Zerstörens des jüdischen Kulturerbes, ja der "Beseitigung des [jüdischen] Kulturerbes" nach 1945 als ein "Zu-Ende-Bringen von NS-Projekten" (81). Der Genozid an den Juden durch die Nationalsozialisten war von einem Mnemozid begleitet; letzterer sei auch nach 1945 fortgesetzt worden, so Seiberts Hauptargument.
Dieses belegt er an zahlreichen Beispielen, an denen sich Zerstörung, Abtragung, Umfunktionierung und Umgestaltung der baulichen Substanzen und Relikte von Synagogen und Gemeindehäusern in Deutschland nach 1945 dokumentieren lassen. Dabei ist es das große Verdienst Seiberts, sich nicht nur urbaner Beispiele zu bedienen, sondern auch Landregionen mit einzubeziehen. Der Autor begibt sich also auch in jene Orte, in denen es einst ein kulturell lebendiges Landjudentum gegeben hatte. Zwar hatte das Landjudentum im Verlauf des 19. Jahrhunderts sukzessive an Bedeutung verloren. Und doch waren vielerorts nach 1945 noch jüdische Bauten - sei es in ihrer vollen Beschaffenheit oder in ihren Relikten - erhalten geblieben. Es ist gerade die Erschließung dieses empirischen Materials, die Seiberts Studie zu einem wichtigen Beitrag für das Forschungsfeld der Jewish Material Culture macht. Letzteres beabsichtigt - von den Methoden und Ansätzen des sich vollziehenden material turn in den Geschichtswissenschaften durchaus inspiriert [1] -, über die Historizität jüdischer Materialität die Geschichte und Kultur der Judenheiten wie auch die ihrer Umgebungsgesellschaften zu erschließen. Diesem Zugang kommt nicht zuletzt angesichts der Totalität nationalsozialistischer Vernichtung und Zerstörung jüdischer Lebenswelten eine erkenntnistheoretische Bedeutung zu. [2] Und doch geht es in Seiberts Studie weniger um die jüdische Geschichte im engeren Sinne als vielmehr um jene der deutschen Gesellschaft.
Das Buch argumentiert weitestgehend entlang der Chronologie. Die einzelnen Kapitel thematisieren jeweils Umgangsformen und -strategien der Deutschen mit ihrem jüdischen Kulturerbe. In der Summe der Aufzählung seiner Beispiele aus Stadt und Land bildet sich sodann eine Topographie jüdischer Kultus- und Sakralbauten in der BRD und DDR ab, die - wie das umfangreiche Ortsregister im Buch belegt - einer Inventarisierung gleichkommt, gerade weil der Autor auch die Existenz jüdischer Bauten von "vor 1933" berücksichtigt und dokumentiert - unabhängig davon, ob von diesen Bauten "nach 1945" nur noch "Steine", "Überreste" oder gar der ganze Bau noch erhalten geblieben waren. Wie also haben sich die Gemeinden, Kommunen, Dörfer und Städte in der BRD und DDR zu dieser sich in Stein und Bau manifestierenden Erinnerung an die jüdische Nachbarschaft und die Verbrechen an ihnen verhalten? Diese Frage ist zentral im Buch. Die Antworten darauf empören den Autor selbst.
So wird zu Beginn von den "[g]eschundene[n] Mauern" (Kap. 1) erzählt, die als bauliche Relikte unterschiedliche Gewaltgeschichten zu erzählen vermochten: etwa von ihren Zerstörungen im Zuge der Novemberpogrome im Jahr 1938; oder davon, dass sie auch schon vor 1938 geplündert und bis auf das Fundament abgerissen worden waren; oder davon, dass sie immer wieder zu bestimmten Zwecken umfunktioniert wurden. Diese dokumentarische Darstellung ist besonders zu würdigen, gerade weil in herkömmlichen Handbüchern, darunter etwa in dem von Seibert selbst kritisch aufgeführten, immer wieder aktualisiert herausgegebenen "Handbuch der deutschen Kulturdenkmäler", nur marginale Verweise auf und Informationen über architektur- und baugeschichtlich bedeutende jüdische Gebetshäuser enthalten sind - für Seibert ein weiterer Beleg für deren "fortgesetzte Ausgrenzung" (Kap. 2). Doch nicht allein zwecks der Erinnerung, sondern auch im Kontext der - nach 1945 vereinzelt durchgeführten - juristischen Aufarbeitungen der Novemberpogrome von 1938 hätten die jüdischen Sakralbauten weitaus mehr beizutragen gehabt, als die von einem plötzlichen Gedächtnisschwund heimgesuchten deutschen Bevölkerungsgruppen (Kap. 3). Ab den 1950er Jahren folgten durch Umgestaltungspläne von Städten sodann die eigentlichen "Abräumarbeiten", die angestoßen durch das "Wirtschaftswunder" sowie angetrieben von einer "rücksichtslosen Modernisierung" zwangsläufig zur Zurückdrängung der Erinnerung (und damit auch der Schuldfrage) führen mussten. In den Stadtplanungen dieser Zeit, also in Abrissen und Neubebauungen, wurde die "Erbevernichtung" oftmals bewusst hingenommen (Kap. 4). "Stein um Stein" spürt Seibert auch die Zerstörungen von den 1960er bis in die 1980er Jahre nach (Kap. 5). Nicht selten wurden Bauten bewusst dem Verfall überlassen, um dann ihren Abriss zu begründen. Mithin wurde durch diese rücksichtslose Vorgehensweise das Wissen und das Bewusstsein von den Verbrechen am konkreten Ort zurückgedrängt, Auschwitz als Metonym für die Verbrechen vom eigenen Lebensraum abgespalten (105). An jenen Orten, an denen nicht zerstört wurde, weist Seibert "Synagogenrecycling" nach, also eine Art Umnutzung und Umbau der erhaltenen Bauten (Kap. 6). Nicht anders verhielt es sich in der DDR (Kap. 7).
Auch der rigorose Umgang von Stadt und Gesellschaft mit dem materiellen jüdischen Erbe in Berlin, dem einstigen Zentrum kultureller Lebendigkeit, erhält in seiner Studie eine ausführliche Betrachtung (Kap. 8). Von einem besonderen archivalischen Fund zeugt eine Fotoserie, die sowohl die Existenz als auch die Zerstörung des kulturellen jüdischen Lebens in der hessischen Stadt Dieburg dokumentiert (Kap. 9). Wenngleich ab den 1980er Jahren ein deutsches Bewusstsein für das jüdische Kulturerbe zu konstatieren sei, das unter anderem in der Denkmalschutzpflege, in Gedenktafeln und in der Musealisierung zum Ausdruck kam, sei dies auf wenige zivilgesellschaftliche Gruppen beschränkt geblieben. Ohnehin sei die Herausbildung dieses Bewusstseins Ergebnis von debattenreichen Kämpfen gewesen (Kap. 10-12). Zum Abschluss seines Buches setzt sich Seibert kritisch mit gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Forderungen auseinander, in denen der Wunsch nach einer "originalgetreuen" respektive "authentischen" Rekonstruktion zerstörter jüdischer Sakralbauten zum Ausdruck kommt.
Schon aus den zahlreichen, hier selektiv zitierten Begrifflichkeiten des Autors ("Erbevernichtung", "Abräumarbeiten" etc.) wird deutlich, mit welcher Empörung er diesen Aspekt der deutschen Geschichte nach 1945 aufgearbeitet hat. Immer wieder kontrastiert Seibert seine eigenen Erwartungen mit den Entscheidungen in den vergangenen Jahrzehnten der deutschen Geschichte nach 1945: Als Orte des Verbrechens, als Räume der Geschichtsvermittlung und der kritischen Reflexion, als Plätze von historisch-kultureller Bedeutung hätten - so Seibert - diese materiellen Zeugnisse jüdischer Sakralbauten erhalten und gepflegt werden müssen. Zwar führt Seibert durchaus auch Gründe auf, warum die BRD und die DDR diesen Anspruch auf Bewahrung, Vermittlung und Erinnerung nicht hegten, dennoch geht es ihm vor allem darum, eine Systematik in der Praxis der Demontage von Erinnerung, also im Mnemozid, nachzuweisen, die er bis in unsere Gegenwart hinein verlängert. Die Frage, welchen Zugang wir zu unserem materiellen jüdischen Kulturerbe entwickeln sollen - auch angesichts des immer wieder grassierenden Antisemitismus - bleibt von großer Relevanz. Mit seinem Buch, das Beispiel um Beispiel dokumentiert, wie dieses Erbe systematisch und intentional zerstört wurde, appelliert Seibert an unsere politische Verantwortung in Bezug auf die Bedeutung und Schaffung von Gedächtnis- und Gedenkorten.
Anmerkungen:
[1] Zur Bedeutung der material culture für die Geistes- und Sozialwissenschaften vgl. Hans P. Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005.
[2] Hierzu vgl. auch die Arbeiten des seit Frühjahr 2024 in Leipzig gestarteten Graduiertenkollegs "Belongings. Jewish Material Culture in Twentieth Century"
Peter Seibert: Demontage der Erinnerung. Der Umgang mit dem jüdischen Kulturerbe nach 1945, Berlin: Metropol 2023, 400 S., 38 s/w-Abb., ISBN 978-3-86331-712-6, EUR 26,00
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