"Die Stadtgeistlichen gehörten im 17. Jahrhundert zu den aktivsten aussenpolitischen Akteuren Zürichs" (529). Zu diesem Ergebnis gelangt Sarah Rindlisbacher Thomi am Ende einer eindrucksvollen Arbeit, die durch ihre Materialfülle, ihre methodische Sorgfalt und ihre analytische Präzision überzeugt.
Sie beginnt nach der Einleitung (11-54) mit einer Darstellung Zürichs im Untersuchungszeitraum (55-88). In einem weiteren Schritt werden die sechs von Rindlisbacher Thomi untersuchten Protagonisten biographisch vorgestellt (89-123). Dabei handelt es sich mit den drei Antistites (leitenden Geistlichen) Johann Jakob Breitinger, Johann Jakob Ulrich und Anton Klingler sowie den drei Theologieprofessoren Caspar Waser, Johann Heinrich Heidegger und Johann Heinrich Hottinger durchweg um Inhaber hoher und höchster Positionen der Zürcher Kirche. Mit den führenden Kreisen Zürichs verbanden sie Familien- und Heiratsbande. Zudem charakterisiert sie ihre umfassende Bildung, die sie in unterschiedlicher Intensität durch Bildungsreisen ins europäische Ausland vertieft hatten. Rindlisbacher Thomi beschreibt sodann sechs außenpolitische Konstellationen, die ihr als besonders geeignet für die Identifikation der Strukturen und Mechanismen des diplomatischen Engagements der Geistlichen erscheinen (124-182). Dabei handelt es sich um die Wiederaufnahme außenpolitischer Bündnispolitik durch Zürich zu Beginn des 17. Jahrhunderts, sodann um Zürichs Kontakte zu Schweden im Dreissigjährigen Krieg, sowie zu England in der Ära von Lordprotektor Oliver Cromwell in den 1650er Jahren, um die Bemühungen Zürichs um europäische Unterstützung im Wingoltinger Handel 1664, um das Engagement der Limmatstadt im Niederländisch-Französischen Krieg der 1670er Jahre und schliesslich um Zürichs außenpolitisches Agieren im Pfälzischen Erbfolgekrieg Ende des 17. Jahrhunderts.
Vor diesem biographischen und ereignisgeschichtlichen Hintergrund profiliert Rindlisbacher Thomi außenpolitische Netzwerke und Praktiken der Zürcher Stadtgeistlichen (183-328) und fragt nach ihren Zielen, Argumenten und Interessen (329-397) sowie nach theologischen Motiven ihres Handelns (398-431). Deutlich wird, dass die Einbeziehung der Geistlichen ein strukturelles Merkmal der Zürcher Außenpolitik im 17. Jahrhundert war. Geistliche agierten für Gesandte ausländischer protestantischer Mächte als Ansprechpartner für Informationen, als Anlaufstelle bei der Wohnungs- und Personalsuche und sogar als Vertrauenspersonen für den Bankverkehr. Der Rat wiederum griff immer wieder auf sie, ihre Sprachkenntnisse und internationalen Netzwerke zurück. In einem eigenen Kapitel beleuchtet Rindlisbacher Thomi das Verhältnis zwischen den Zürcher Stadtgeistlichen und ihrer weltlichen Obrigkeit (433-528), wobei sie sowohl auf Beispiele einvernehmlicher Zusammenarbeit als auch auf Interessenkonflikte und Kompetenzstreitigkeiten zu sprechen kommt. Letztere nahmen im ausgehenden 17. Jahrhundert zu und führten ab 1700 zu einem spürbaren Rückgang des Einflusses und der Inanspruchnahme der Geistlichen als diplomatische Akteure. Das abschliessende Fazit (529-542) bündelt die Erkenntnisse der Studie methodisch reflektiert.
Entstanden ist dieses Buch als Qualifikationsschrift in Bern bei André Holenstein. An seine Forschungen zur Schweizergeschichte in der Frühen Neuzeit schliesst Rindlisbacher Thomi ebenso an wie an diejenigen ihres Zweitbetreuers Thomas Maissen und an die Arbeiten von Thomas Lau. Sie versteht ihre Untersuchung "nicht als Zürcher Lokalstudie, sondern als Beitrag zur eidgenössischen und europäischen Politik- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit" (22). In der Tat ist es eine der Leistungen dieses Buches, die Zürcher Stadtgeistlichen als "transnationale Figuren par excellence" (536) vorzustellen. Dabei kann Rindlisbacher Thomi anknüpfen an die Renaissance diplomatiehistorischer Fragestellungen seit der Jahrtausendwende, aber auch an das von Barbara Stollberg-Rilinger vorgeschlagene Konzept einer Kulturgeschichte des Politischen (28). Rindlisbacher Thomi greift die Wiederentdeckung des Akteurs als zentralen Faktors der interpersonal statt institutionalisiert strukturierten frühneuzeitlichen Außenbeziehungen auf. Es gelingt ihr, ein nuanciertes Bild vom außenpolitischen Agieren der von ihr untersuchten Stadtgeistlichen als informalen Akteuren zu gewinnen.
Schliesslich greift Rindlisbacher Thomi auch zurück auf die kirchenhistorisch sehr fruchtbare Debatte um das Konfessionalisierungsparadigma. Sie entnimmt diesem Diskurs einerseits, dass dem Faktor der jeweiligen Konfession "eine zentrale und eigenständige Rolle in der Untersuchung" zuzukommen habe (41). Dies ist umso herausfordernder, als das 17. Jahrhundert kirchenhistorisch bislang viel zu wenig untersucht wurde - dass Rindlisbacher Thomi um die Problematik der gängigen Darstellung der sogenannten reformierten Orthodoxie weiss, zeigt, wie sorgfältig sie auch neuere theologiehistorische Literatur wahrgenommen hat (39-41). Das Anliegen, eine kulturgeschichtlich ausgerichtete Konfessionsgeschichte mit der theologisch beheimateten Kirchengeschichte zu verbinden, zieht sich durch die Arbeit von Rindlisbacher Thomi hindurch und erweist sich als verheissungsvoll: Sie verbindet überzeugend den religiösen Faktor mit politischen und wirtschaftlichen Faktoren, um so ein möglichst differenziertes Bild zu gewinnen. Aus den zahlreichen Arbeiten, die durch die von Schilling und Reinhard initiierte Debatte inspiriert wurden, sieht Rindlisbacher Thomi insbesondere in den sozialhistorischen Studien von Luise Schorn-Schütte zur frühneuzeitlichen protestantischen Geistlichkeit und in der Erforschung der Hofgeistlichkeit (etwa Matthias Meinhardt, vgl. 35f) Anknüpfungspunkte zu ihrem eigenen Zugang. So kommen die hoch gebildeten, mit der lokalen Zürcher Elite meist durch Herkommen und/oder Eheschliessung verbundenen Inhaber der höchsten Ämter der Zürcher Kirche mit ihren weit verzweigten europäischen Netzwerken in den Blick. Dabei greift Rindlisbacher Thomi auf qualitativ-punktuelle Netzwerkanalysen zurück, um das Spezifische der von ihr untersuchten Personen und ihres Agierens profilieren zu können. So gelingt es ihr beispielsweise, diverse Praktiken unter dem Begriff der "Heimdiplomatie" zu verbinden und auf diese Weise neben Kongressen und Gesandtschaften einen dritten Locus diplomatischer Aktivität zu bestimmen. Überzeugend plädiert sie dafür, "die Außenbeziehungen der eidgenössischen Orte nicht von der Außen-, sondern von der Heimperspektive her zu erfassen" (540). Dem Konzept des Internationalen Calvinismus steht sie ambivalent gegenüber (vgl. 28-39), wenngleich sie überzeugend herausarbeitet, wie stark die Zürcher Geistlichen seit der Deputation an die Synode von Dordrecht Argumente und Begriffe aus Diskursen anderer reformierter Territorien aufgriffen.
Eine grosse Stärke von Rindlisbacher Thomis Arbeit ist neben ihrer methodischen Multiperspektivität die Erschliessung eines umfangreichen Corpus an Archivalien aus insgesamt 11 Institutionen in der Schweiz, Deutschland, den Niederlanden, Grossbritannien und Schweden. Diese um gedruckte Quellen erweiterte Untersuchungsgrundlage wird durchweg problemorientiert, methodisch reflektiert und im besten Sinne kritisch ausgewertet. So entsteht ein farbenfrohes, nuanciertes und faszinierendes Bild, das bereits vorliegende Forschungsergebnisse aufnimmt, weiterentwickelt und um eigene Erkenntnisse ergänzt.
Sarah Rindlisbacher Thomi: Botschafter des Protestantismus. Außenpolitisches Handeln von Zürcher Stadtgeistlichen im 17. Jahrhundert (= Frühneuzeit-Forschungen; Bd. 23), Göttingen: Wallstein 2022, 591 S., 2 Abb., ISBN 978-3-8353-5236-0, EUR 59,90
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