In Zuwanderung eine "Belastung des Sozialstaates" zu sehen oder Sozialleistungen als "Pull-Faktoren" zu adressieren, sind wiederkehrende Topoi in den Debatten über Asyl- oder EU-Binnenmigration in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart. Dabei ist das Verhältnis zwischen Migration und Sozialstaat vor allem von politik- und sozialwissenschaftlicher, aber bislang kaum systematisch von historischer Seite untersucht worden. [1] Die Historikerin Beate Althammer hat nun einen Sammelband vorgelegt, der Fragen von Migration, sozialen Rechten und Citizenship zusammendenkt.
Als Ausgangspunkt dient dabei die Frage, ob der Ausbau des Wohlfahrtsstaates in europäischen Ländern seit dem späten 19. Jahrhundert mit einem zunehmenden Ausschluss von Ausländer:innen verbunden war - und inwiefern sozialstaatliche Politiken Migrant:innen inkludierten oder diese vielmehr von entsprechenden Leistungen ausgeschlossen wurden. In ihrer konzisen Einleitung schlägt Althammer vor, das Citizenship-Konzept als "potential bridge" (3) zwischen der historischen Migrations- und der historischen Wohlfahrtsstaatsforschung zu betrachten.
Der Schwerpunkt des Bandes liegt dabei auf den 1870er bis 1930er Jahren, denen sich neun der elf Beiträge widmen, während nur zwei Aufsätze die Dekaden nach 1945 in den Blick nehmen. Behandelt werden ganz unterschiedliche Migrationsprozesse und damit verbundene Fragen von Status und sozialen Rechten, vom "Heimatrecht" für Binnenmigrant:innen um 1900 (Sigrid Wadauer) über soziale Rechte ausländischer Arbeitsmigrant:innen vor französischen Arbeitsgerichten (Federico Del Giudice) oder in der österreichischen Landwirtschaft (Jessica Richter) bis zu Unterstützungsansprüchen von Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg (Giacomo Canepa). Dabei knüpft der Band an bestehende Forschungsfelder, vor allem zur Regulierung von Armut und Mobilität im 19. Jahrhundert und zur Internationalisierung sozialer Rechte im frühen 20. Jahrhundert, an. [2]
Als Sonderfälle erscheinen im Band zum einen die "Schwabenkinder", die bis ins frühe 20. Jahrhundert aus den Tiroler Alpen zur Saisonarbeit nach Württemberg zogen und deren soziale Betreuung durch eine katholische Vereinigung Johnathon Speed nachzeichnet. Zum anderen behandeln zwei Beiträge Elsass-Lothringen. Philipp Heckmann-Umbau zeigt in seinem Beitrag zu Straßburg, wie unter deutscher Herrschaft nicht nur die Zuwanderung von Migrant:innen aus dem Reich gefördert wurde, sondern dies auch mit dem Ausbau sozialpolitischer Maßnahmen verbunden war. Migration fungierte hier als "a catalyst of modern social policy" (161). Leonie Bausch widmet sich dem von Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg installierten System von Identitätskarten, das nach Herkunft hierarchisierte. Sie untersucht die Agency elsässischer Frauen, die mit deutschen Migranten verheiratet waren und sich in den Aushandlungen mit der französischen Bürokratie um eine Höherstufung bemühten - und zeigt damit, wie fluide die Grenzen zwischen "citizens and foreigners" (55) teils waren.
Die Annahme einer klaren Dichotomie in dieser Hinsicht stellt auch Olga Sparschuh in ihrem Beitrag zu süditalienischen Arbeitsmigrant:innen nach Turin und München seit den 1950er Jahren in Frage. So zeigt sie, dass die grenzüberschreitende Migration faktisch oft zu höheren Rentenleistungen führte als die Binnenmigration. Der Band versammelt so nicht nur Perspektiven auf unterschiedliche Migrantengruppen, sondern widmet sich auch verschiedenen Formen sozialer Rechte bzw. Leistungen, wobei der Einbezug von Migrant:innen in Sozialversicherungs- und Fürsorgesysteme im Vordergrund steht.
Positiv hervorzuheben ist, dass viele Beiträge nicht bloß die formalen Rechte von Migrant:innen in den Blick nehmen, sondern Aushandlungsprozesse und Praktiken im Zusammenhang mit deren Inanspruchnahme analysieren. Gleichzeitig verwiesen lokale Arenen der Aushandlung oftmals auf nationale und transnationale Regeln und Vereinbarungen. So kann Beate Althammer in ihrem Beitrag zu Konflikten um den Unterhalt fürsorgebedürftiger Niederländer:innen in Städten des Rheinlandes zeigen, wie die preußische Ausweisungspraxis gegenüber verarmten Migrant:innen in den 1910er Jahren einem System der grenzüberschreitenden Zahlung von Fürsorgekosten Platz machte.
Trans- und internationale Aspekte stehen auch im Fokus der letzten drei Beiträge des Bandes. Giulio Francisi zeichnet in seinem Aufsatz den Weg der bereits um 1900 zahlreich bestehenden bilateralen Abkommen über die sozialen Rechte migrantischer Arbeiter:innen hin zu multilateralen Konventionen unter dem Dach der International Labour Organisation (ILO) in den 1920er und 1930er Jahren nach, auch wenn er konstatiert, dass diese letztlich "little practical impact" (234) gehabt hätten. Im Aufsatz von Simon Gerards Iglesias zu Argentinien - der einzige Beitrag zu einem Land außerhalb Europas - spielt die ILO ebenfalls eine zentrale Rolle, da sowohl sie als auch die argentinische Regierung sich in der Zwischenkriegszeit um eine verstärkte europäische Übersee-Auswanderung bemühten - unter anderem über sozialpolitische Maßnahmen. Giacomo Canepa schließlich zeigt, wie in den 1950er Jahren nationale Regelungen an die Stelle des "alternative welfare state for the stateless" (G. Daniel Cohen, 259), den internationale Organisationen wie die UNRRA nach 1945 für Flüchtlinge aufgebaut hatten, traten. Für die untersuchten Fälle Italien und Frankreich konstatiert Canepa eine mehr oder weniger starke Exklusion ausländischer Flüchtlinge aus sozialen Unterstützungsleistungen, die in Italien, das sich als reines Transitland verstand, stärker ausfiel als in Frankreich.
Der Band bietet insofern vielfältige und anregende Befunde zum Nexus von Migration, Citizenship und sozialen Rechten auf lokaler, regionaler und trans- wie internationaler Ebene, die sich allerdings kaum in ein klares Narrativ zu fügen scheinen. So ist auch eine zentrale These der Herausgeberin, dass "dichotomous notions of (included) citizens versus (excluded) aliens" der Komplexität historischer Entwicklungen nicht gerecht würden (12). Etwas offen bleibt nach der Lektüre, wie sich die in den Beiträgen dargestellten Entwicklungen alternativ auf den Punkt bringen ließen - eine "single hypothesis" (12) in dieser Hinsicht wird von der Herausgeberin nachvollziehbarerweise verworfen. Hier ist zu hoffen, dass der gelungene Band zu weiteren Forschungen, die auch vermehrt die Dekaden nach 1945 in den Blick nehmen könnten, und möglichen Synthesen Anstoß bietet.
Anmerkungen:
[1] Als Forschungsüberblick für die deutsche Geschichte seit dem späten 19. Jahrhundert: David Templin: Migration und Sozialpolitik in historischer Perspektive. Forschungsbefunde und -perspektiven für die neuere deutsche Geschichte (DIFIS-Studie 2024/4), Duisburg / Bremen 2024.
[2] Vgl. ebd., 4-10, sowie frühere Publikationen der Herausgeberin, etwa Beate Althammer: "Welfare Does Not Know Any Borders" - Negotiations on the Transnational Assistance of Migrants before the World Wars, in: Journal of Migration History 6 (2020) 3, 352-378; dies.: Vagabunden. Eine Geschichte von Armut, Bettel und Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung, 1815-1933, Essen 2017.
Beate Althammer (ed.): Citizenship, Migration and Social Rights. Historical Experiences from the 1870s to the 1970s (= Routledge Studies in Modern History), London / New York: Routledge 2023, VIII + 288 S., ISBN 978-1-03-219826-2, GBP 135,00
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