Nachdem die Forschung zur Kontinuität in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft über das Jahr 1945 hinweg in letzter Zeit neue, innovative Ergebnisse geliefert und so zu einem äußerst vielfältigen Forschungsstand beigetragen hat, ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Dies versucht Hans-Ulrich Thamer, Emeritus aus Münster, in einer knappen Studie, die sich bewusst an ein größeres Publikum wendet. Das ist zweifellos verdienstvoll und dürfte auf ein breites Interesse stoßen. Das Problem seiner Studie scheint mir aber darin zu liegen, dass sich Thamer darauf beschränkt, ohne eigene Forschung die Resultate anderer Forschungsprojekte zusammenzuführen, so dass er auf dieser Basis zuweilen zu einseitigen Ergebnissen gelangt.
Thamer widmet sich der Wirtschaft, den Beamten in staatlichen Behörden und Gerichten, dem Militär, Medizinern sowie Journalisten, und es ist immer wieder dasselbe Muster, das er im Hinblick auf Westdeutschland zu beschreiben hat. Während in den ersten Jahren der Besatzungsherrschaft Personen, die vor 1945 exponierte Positionen in ihrem Berufsfeld innegehabt hatten, die sich stärker politisch engagiert oder die sogar an nationalsozialistischen Gewaltverbrechen beteiligt gewesen waren, zunächst ausgegrenzt und teilweise sogar bestraft wurden, änderte sich das gesellschaftliche Klima zu Beginn der 1950er Jahre zu ihren Gunsten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen erhielten sie die Chance, in führende Stellungen zurückzukehren und das neue demokratische Gemeinwesen mitzugestalten. Dabei verweist Thamer immer wieder auf die moralischen Probleme, die damit einhergingen: Viele machten über ihre nationalsozialistische Vergangenheit falsche Angaben, manche - wie der Germanist Hans Schneider/Schwerte - wechselten sogar ihre Identität, NS-Opfer und Emigranten wurden bei den Einstellungen zunehmend benachteiligt, und bei der Tätigkeit der belasteten Personen traten teilweise Kontinuitäten hervor, etwa wenn die Wiedergutmachungsansprüche von Zwangssterilisierten oder Sinti und Roma über Jahrzehnte von Verwaltung und Justiz negiert wurden.
Das gesamte Buch ist somit von einer Ambivalenz bei der Bewertung der Vorgänge in der Bundesrepublik geprägt. Zum einen bestand aus Thamers Sicht - neben der moralischen Hypothek - durch die Reaktivierung der früheren Nationalsozialisten die beständige Angst vor einer "Renazifizierung" (8) sowie bis etwa 1957 die tatsächliche Gefahr einer politischen Radikalisierung der jungen Bundesrepublik, die allerdings in meinen Augen zu stark betont wird. Zum anderen hebt der Autor aber auch das durch die Integration der "Ehemaligen" erzielte hohe Maß an Effizienz der Verwaltung oder den langfristigen Lernprozess der reaktivierten Eliten heraus, durch den die parlamentarische Demokratie allmählich auf ein festes Fundament gestellt wurde. Insofern scheint es so, dass das gegenüber den Gefolgsleuten Hitlers ausgesprochen großzügige Integrationskonzept der Bundesrepublik letztlich doch erfolgreich war.
Während diese grundlegende Bewertung dem aktuellen Forschungsstand entspricht und durchweg einleuchtet, überzeugt die Darstellung an manchen Stellen weniger. Sie orientiert sich an einer begrenzten Auswahl von in den letzten Jahren erschienenen prominenten Studien, während andere wichtige Aufarbeitungsprojekte - beispielweise das zum Bundesamt für Verfassungsschutz oder das zum Wirtschaftsministerium [1] - nicht berücksichtigt werden. Zudem sind einige Detailinformationen nicht ganz richtig, manche sogar schlichtweg falsch. Beispielsweise handelt es sich um ein Missverständnis, wenn zu lesen ist, dass zentrale Posten im Bundesinnenministerium von Beamten bekleidet wurden, die bereits im Reichsinnenministerium tätig gewesen waren (130). Das Gegenteil ist der Fall. Im Bundesinnenministerium war trotz der vergleichsweisen hohen Belastung der Mitarbeiter die personelle Kontinuität gegenüber der Vorgängerinstitution ausgesprochen klein. Die Aussage, dass nur ein Prozent der Angaben aus dem "Braunbuch" der DDR über "braune Eliten" im Westen falsch war (126), ist heute kaum mehr haltbar. Gegenüber den leitenden Beamten des Bundesinnenministeriums war der Anteil richtiger Angaben erheblich geringer. Genauso ist es ein Rätsel, wie Thamer unter den Richtern des Bundesverfassungsgerichts für das Jahr 1964 eine frühere NSDAP-Mitgliedschaft von 40 Prozent ausmachen kann. Tatsächlich lag sie deutlich darunter - bei unter 20 Prozent (drei von 16 Richtern). Hier rächt es sich, dass sich im gesamten Buch Nachweise in Fußnoten nur äußerst spärlich finden, so dass immer wieder Behauptungen, die beim informierten Leser Stirnrunzeln verursachen, nicht nachprüfbar sind. Nicht zuletzt ist es mir unverständlich, wie Thamer einen fiktionalen Roman als Quelle oder quellenbasierte Darstellung missdeuten kann. Sicher kann man über die literarische Qualität von Ursula Krechels 2012 erschienenem "Landgericht" geteilter Meinung sein, aber um eine "Bestätigung" (109) der zeitgeschichtlichen Forschung handelt es sich dabei eindeutig nicht.
Bei alldem wird die DDR nicht in gleichem Umfang wie die Bundesrepublik behandelt. Es sind kurze Seitenblicke, die den ganz anderen Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe im Osten thematisieren. Dabei betont der Autor immer wieder, dass die DDR tatsächlich nicht umhinkam, sich ebenfalls auf belastetes Personal zu stützen, während sie zugleich auf "doppelzüngige" Weise (247) dem Westen die Dominanz der "Ehemaligen" zum Dauervorwurf machte. Aber dieses Bild scheint mir aufgrund neuester Forschungen als zu einseitig, da dabei das nachvollziehbare, wenn auch teilweise irrationale Sicherheitsbedürfnis der SED, das langfristig erfolgreich vorangetriebene Ziel eines Elitenaustauschs und die kontinuierliche Verschärfung beim Umgang mit früheren Nationalsozialisten während der 1950er Jahre unterschätzt werden.
Wer sich einen schnellen Überblick über das Thema verschaffen will, in welchem Ausmaß personelle Kontinuitäten die Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre prägte, ist mit dem Buch von Hans-Ulrich Thamer nicht schlecht bedient. Wer sich hingegen fundiert in den Forschungsstand einarbeiten will, wird auch weiterhin nicht umhinkommen, die zahlreichen historischen Einzelstudien über die in jüngster Zeit untersuchten Institutionen der Nachkriegszeit zur Hand zu nehmen.
Anmerkung:
[1] Constantin Goschler / Michael Walla: "Keine neue Gestapo". Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Reinbek 2015; Werner Abelshauser u.a. (Hgg.): Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917-1990, 4 Bde., Berlin / Boston 2016.
Hans-Ulrich Thamer: Zweite Karrieren. NS-Eliten im Nachkriegsdeutschland, Berlin: BeBra Verlag 2024, 288 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-89809-250-0, EUR 26,00
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