Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich die Körpergeschichte im deutschsprachigen Raum als dynamisches Forschungsfeld etabliert, das interdisziplinäre Ansätze verschiedenster Bereiche in sich vereint. Vor diesem Hintergrund präsentiert der von Mark Hengerer herausgegebene Sammelband die Ergebnisse des 15. Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung von 2016. Die Tagung basierte auf der Annahme, dass Prozesse der Vergesellschaftung wesentlich durch Praktiken und performative Darstellungen des Körpers in alltäglichen wie außergewöhnlichen Kontexten geprägt werden. In diesem Zusammenhang wurden der Umgang des Menschen mit seinem Körper, dessen Verhältnis zur Umwelt sowie die Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit als zentrale Ansatzpunkte für das Verständnis historischer Gesellschaften hervorgehoben (9).
Die 21 Beiträge internationaler Forscher:innen eröffnen ein vielseitiges Spektrum verschiedener Perspektiven, wobei sie zum Großteil über die Barockzeit hinausgehen und der Sammelband damit nahezu die gesamte Frühe Neuzeit abdeckt. Neben einer "historisch-gesellschaftswissenschaftlichen Perspektive", die Körperlichkeit als sozialen und kulturellen Prozess im Kontext historischer Machtstrukturen und gesellschaftlicher Veränderungen betrachtet, wird auch eine "literaturwissenschaftliche Perspektive" integriert, die die narrative, diskursive und symbolische Konstruktion des Körpers untersucht (10). Beide Herangehensweisen ergänzen einander und beleuchten die komplexen Wechselwirkungen zwischen Körper, Kultur und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Der programmatische Ansatz des Bandes liegt in der Kombination von theoretischer Offenheit, interdisziplinärer Zusammenarbeit und der kritischen Auseinandersetzung mit historischen, sozialen und medientheoretischen Dimensionen von Körperlichkeit. Der Band legt besonderen Wert darauf, Desiderate und Forschungsprobleme zu identifizieren, anstatt - verständlicherweise - Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Ziel war es nicht, ein umfassendes Bild zu zeichnen, sondern konkrete Forschungsprobleme, methodische Desiderate und neue Quellen in den Fokus zu rücken. Zudem sollen empirische Arbeiten und heuristisch fruchtbare Ansätze zu neu erschlossenen Quellen thematisiert bzw. etablierte Themen neu perspektiviert werden (9).
Der Band gliedert sich in drei thematische Schwerpunkte: "Literaturen", "Magie und Religion" sowie "Visualisierungen und Performanzen" und bietet damit ein breit gefächertes Spektrum an thematischen Schwerpunkten und unterschiedlichen Perspektiven und Methoden der Körperforschung.
Im ersten Teil des Bandes "Literaturen" liegt der Schwerpunkt auf der durch Druckmedien vermittelten Diskursivierung von Körpern. Den Beiträgen liegen unterschiedlichste Quellengattungen (beispielsweise Romane, Autobiographien, Straferzählungen) zugrunde. Zrinka Blažević analysiert in der Autobiographie des osmanischen Reiteroffiziers Osman Ağa von Temeschwar (1671-1725) den Übergang von "hegemonialer" zu "untergeordneter Männlichkeit" (107). Sie zeigt, wie Osman Ağa durch seine Gefangenschaft in der habsburgischen Welt physisch und symbolisch eine veränderte Position einnahm und seine transkulturellen Erfahrungen sowie sprachlichen Fähigkeiten nutzte, um seine "hegemoniale Männlichkeit" zurückzugewinnen. Die Arbeit verdeutlicht, wie Männlichkeitsvorstellungen durch physische, kulturelle und soziale Übergänge herausgefordert und transformiert werden. Angesichts der bislang geringen Forschung zu diesem Thema liefert Zrinka Blažević einen bedeutenden Beitrag zur Körpergeschichte, indem sie Männlichkeit als dynamische Prozess- und Relationskategorie interpretiert.
Aleksandra Bovt greift das bereits gut erforschte Thema der Briefwechsel von Liselotte von der Pfalz auf, erweitert es jedoch um eine vergleichende Untersuchung im Kontext der frühneuzeitlichen Konversationsliteratur. Sie betrachtet die Briefe nicht nur als historische Dokumente, sondern als Ausdruck höfischer Kommunikationsideale und Techniken, insbesondere in Bezug auf die Performativität des Körpers (eloquentia corporis). Diese innovative Sichtweise beleuchtet die Wechselwirkungen zwischen persönlicher Korrespondenz und den strikten Vorgaben der höfischen Kommunikation. Obwohl Liselotte von der Pfalz über Krankheit und Körperlichkeit schrieb, orientierte sie sich an höfischen Kommunikationsregeln, lobte anständiges Verhalten und kritisierte unpassende Auftritte, wobei ihre Selbstdarstellung von höfischen Normen geprägt war. Eine körpergeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Korpus ist spätestens seit Mareike Böth zwar nicht neu, zeigt aber, dass das Thema noch lange nicht ausgeschöpft ist. [1]
Der zweite Teil des Bandes "Magie und Religion" befasst sich mit Ritualen und körperbezogenen Handlungen. Sowohl Eva Labouvie als auch Stéphanie Chapuis-Després untersuchen, wie in der Frühen Neuzeit Körperrituale um Schwangerschaft und Geburt mit magischen Praktiken verknüpft waren. Obwohl es sich bei Schwangerschaft und Geburt um ein etabliertes Forschungsthema handelt, wird deutlich, dass eine Neuperspektivierung Erkenntnisse bringen kann. Während Eva Labouvie den Fokus auf die magischen Kräfte von Körperteilen und Substanzen legt, betont Stéphanie Chapuis-Després die Bedeutung von Ritualen rund um Schwangerschaft und Geburt, die als Übergangsrituale magische und religiöse Dimensionen vereinten. Beide legen dar, dass Körper in Phasen hoher Vulnerabilität - sei es durch Krankheit, Schwangerschaft oder Geburt - als besonders anfällig für magische Einflüsse galten, was die Praktiken und Vorstellungen der Zeit nachhaltig prägte.
Philip Knäble, Gregor Rohmann und Lothar Vogel widmen sich dem Körper in religiösen Kontexten und seiner Bedeutung als Ausdruck von Sünde, Heilung oder göttlichem Willen. Die konfessionellen Konflikte um den Tanz von Geistlichen im 16. und frühen 17. Jahrhundert, die durch die Reformation verstärkt wurden, nimmt Ersterer in den Blick. Das Konzil von Trient (1545-1563) verbot den Tanz von Klerikern, da er als weltliche und unpassende Körperbewegung angesehen wurde, betonte jedoch gleichzeitig, dass Geistliche an der adeligen Repräsentationskultur teilnehmen sollten. Besonders in Frankreich kritisierten Calvinisten den Tanz von Geistlichen scharf, wobei er als Symbol für übermäßige Körperlichkeit im Sinne von Sinnlichkeit galt. Philip Knäble beleuchtet, wie der Tanz in diesen konfessionellen Auseinandersetzungen als Medium zur Abgrenzung zwischen Katholiken und Reformierten diente.
Der dritte Teil des Sammelbandes "Visualisierungen und Performanzen" widmet sich der Veranschaulichung von Körpern in unterschiedlichen Text-Bild-Konstellationen. Julia Zons analysiert, wie der französische Physiker und Ingenieur Salomon de Caus (1576-1626) in einem seiner 'Maschinenbücher' den menschlichen Körper als Maßstab nutzte, um die Dimensionen seiner Maschinen darzustellen. Es handelte sich bei seinen Aufzeichnungen jedoch nicht um eine Bauanleitung, sondern diese sollten das mechanische und mathematische Wissen sowie die zeichnerische Kreativität des Autors unter Beweis stellen (270). Svetlana Hautala zeigt auf Grundlage der Textgattung 'Bellum Grammaticale', die im 16. und 17. Jahrhundert äußerst beliebt war, dass auch Sprache performativ verkörpert werden konnte. Grammatische Phänomene und unregelmäßige Verben wurden in Schulaufführungen personifiziert und charakterisiert, um abstrakte grammatische Konzepte verständlich und erlebbar zu machen.
Der Sammelband zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Mischung aus etablierten Themen und der Einbeziehung weniger bekannter Quellen aus, wodurch er einmal mehr vorführt, wie vielschichtig und vielfältig Körpergeschichte sein kann. Besonders hervorzuheben sind jene Beiträge, die auf Quellen in von der allgemeinen Frühneuzeitforschung viel zu selten rezipierten Sprachen basieren, wie zum Beispiel tschechisch-sprachige Drucke rund um sogenannte 'Monstergeburten', da diese bisher wenig beachtete Materialien einer breiteren Forschungsgemeinschaft zugänglich machen. Zwar sind einige Quellenauszüge so umfangreich, dass sie die Analyse manchmal überlagern, jedoch wertvolle Einblicke in das Material bieten. Die Zuordnung der Beiträge in die einzelnen Unterkapitel mag mitunter etwas schwer nachvollziehbar erscheinen. Dies könnte einerseits auf die Struktur der vorausgegangenen Tagung zurückzuführen sein, andererseits spiegelt es die inhaltliche Vielfalt der Beiträge wider. Mark Hengerer betont, dass "der Versuch, die [...] Beiträge von Tagung und Band sinnvoll zu gruppieren, in eine Gliederung mündete, welche das heuristische Potential eines kommunikations- bzw. medientheoretischen Ansatzes unterstreicht" (10).
Der Band schließt mit Autorenviten und einem Personenregister ab.
Insgesamt verdeutlicht das Buch eindrücklich die unerschöpfliche Vielfalt der Körperforschung. Bereits Caroline Bynum bemerkte in den 1990er Jahren treffend, 'der Körper' sei entweder kein eigenes Thema oder umfasse nahezu alle Themen. [2] Der Sammelband beweist letzteres.
Anmerkungen:
[1] Mareike Böth: Erzählweisen des Selbst. Körperpraktiken in den Briefen Liselottes von der Pfalz (1652-1722) (= Selbstzeugnisse der Neuzeit; 24), Köln u.a. 2015.
[2] Caroline Bynum: Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin, in: Historische Anthropologie 4 (1/1996), 1-33, hier: 1.
Mark Hengerer (Hg.): Der Körper in der Frühen Neuzeit. Praktiken, Rituale, Performanz (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; Bd. 56), Wiesbaden: Harrassowitz 2023, 408 S., 31 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-11937-5, EUR 78,00
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