Die 1920er Jahre gelten als eine Zeit, in der Frauen stärker in die Öffentlichkeit traten. Die Novemberrevolution 1918 hatte ihnen das aktive und passive Wahlrecht beschert, ihr Zugang zu Bildung und Beruf verbesserte sich weiter. Frauen erlebten zudem eine Befreiung von einschränkenden Modezwängen und entwickelten eine neues Freizeitverhalten. Der Kulturhistoriker Hans Ostwald sprach vom "schlanken Dianentyp, [...] der jenseits des Frauentyps von gestern und früher stand" [1] und sich durch Selbstbewusstsein und Sportlichkeit auszeichnete. Dieses Klischee wurde von Literatur, Publizistik und Film kolportiert und ist bis heute als Sinnbild der Zeit präsent.
Sabine Kienitz und Angelika Schaser zielen mit ihrer Studie "So ist die neue Frau?" darauf, dieses Bild zu erweitern und zu differenzieren. Am Beispiel von Hamburg gehen sie der Frage nach, "wie in den 1920er Jahren die Vorstellungen von gleichberechtigter Teilhabe und rechtlicher Eigenständigkeit im politischen, gesellschaftlichen und beruflichen Alltag eingefordert, konkret umgesetzt und gelebt wurden" (14). Sie nehmen dabei nicht nur die ganz jungen Frauen in den Blick, sondern auch ältere Frauen, die bereits seit vielen Jahren beruflich tätig waren. Zudem werden neben den schon öfter thematisierten Frauen aus den Mittel- und Oberschichten, die als Parlamentarierinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen oder Juristinnen arbeiteten [2], Berufsgruppen analysiert, in denen eher Frauen aus den unteren Gesellschaftsschichten tätig waren, zum Beispiel als Schankwirtinnen, Hebammen oder Varietétänzerinnen.
Die Autorinnen stützen ihre Ausführungen vor allem auf exemplarische Studien einzelner Frauenbiographien, deren Schicksale in den Hamburger Archiven greifbar sind, weil sie im öffentlichen Dienst tätig oder in der einen oder anderen Weise mit der Justiz in Berührung gekommen waren. Dieser biographische Ansatz ist auch einer Marginalisierung von Frauen in den Archiven geschuldet, da diese in den Quellen entweder nicht oder kaum erwähnt werden oder die Akten in vielen Fällen bald wieder ausgesondert und vernichtet wurden. Er zeitigt aber durchaus positive Ergebnisse, weil er das Alltagshandeln der porträtierten Frauen auf besondere Weise herausarbeitet. Die Gesamtschau der vorgestellten Biographien erlaubt zudem allgemeinere Auskünfte über Möglichkeiten und Grenzen von Frauen, die in den 1920er Jahren einen eigenständigeren und selbstbestimmteren Lebensentwurf als den der gehorsamen Ehefrau verfolgten. Die Frauenbiographien werden zwar vor allem mit Blick auf neue Möglichkeiten und weiter bestehende Grenzen in den 1920er Jahren vorgestellt, aber der 1933 aus der Machtübertragung an die Nationalsozialisten resultierende tiefe Einschnitt wird ebenfalls thematisiert.
Die Autorinnen steuern zum Band jeweils drei Aufsätze zu bestimmten Berufsgruppen bei: Kienitz behandelt Lehrerinnen, Schankwirtinnen und Varietétänzerinnen, Schaser Pflegeberufe anhand des Sozialpädagogischen Instituts sowie Frauen in Justiz- und Gesundheitsberufen. Am Anfang des Buches steht zudem ein erkenntnisreiches Kapitel von Sabine Kienitz, das sich den Bemühungen von Frauen in den 1920er Jahren widmet, sprachliche Diskriminierungen abzubauen: Es ging darum, die als herabwürdigend geltende Anrede "Fräulein" für unverheiratete Frauen abzuschaffen. Das war insbesondere ein Anliegen von beruflich selbständigen Frauen, aber auch von (oft ledigen) Parlamentarierinnen. Die Bezeichnung "Fräulein" war nämlich mit einer Wertung verbunden, die die damit bezeichnete Person hinter der eigentlichen "(Ehe-)Frau" als (noch) nicht vollwertig einordnete. Tatsächlich bemühten sich nach der Novemberrevolution viele beruflich und parlamentarisch aktive Frauen nicht nur in Hamburg ganz prinzipiell um die Abschaffung der diskriminierenden Bezeichnung. Allerdings offenbaren sich in dieser Frage dann recht bald die Grenzen, an die Frauen bei der gleichberechtigten Teilhabe am privaten und öffentlichen Leben in der neuen Republik weiterhin stießen. Die städtischen Behörden tolerierten zwar seit Beginn der 1920er Jahre den Gebrauch der Anrede "Frau" für unverheiratete Frauen ab 21, einen Rechtsanspruch darauf billigte man ihnen aber genauso wenig zu, wie man im Schriftverkehr diese Anrede benutzte. Die Benachteiligung der Frauen in der Weimarer Republik erstreckte sich im Übrigen auch auf verheiratete Frauen, die keinen eigenen Identitätsausweis erhielten, sondern weiterhin auf dem Meldeschein des Ehemanns eingetragen waren. Das konnte gravierende Folgen in all den Situationen haben, wo das Vorzeigen des Meldescheins nötig war, zum Beispiel bei der Teilnahme an Wahlen oder der Erteilung von Brotkarten. Offenbar bestand im Hamburger Senat und bei den Ämtern kein Interesse daran, Frauen als eigenständige Individuen und Bürgerinnen anzuerkennen und behördlicherseits auch so zu berücksichtigen. Erst nach wiederholter Intervention von Parlamentarierinnen wurde in Hamburg 1926 die Möglichkeit geschaffen, dass Ehefrauen auf Antrag einen eigenen Meldeschein erhalten konnten. Eine generelle Erteilung von Papieren an alle Frauen wurde als unnötig erachtet und aus Kostengründen abgelehnt.
Die folgenden Kapitel arbeiten die Diskrepanz zwischen den auf die Reichsverfassung zurückgehenden Erwartungen vieler Frauen auf Gleichbehandlung einerseits und der von Behörden geübten Praxis andererseits weiter heraus: Sei es die Entlassung verheirateter Lehrerinnen seit 1924, obwohl das Lehrerinnenzölibat im Jahr 1919 aufgehoben worden war, die Diskriminierung von Hebammen, deren Befugnisse durch die männliche Ärzteschaft zunehmend eingeengt wurden, die Unterordnung von Fürsorgerinnen (auch den akademisch gebildeten) unter männliche Leitung oder die Diskriminierung von bestens ausgebildeten Juristinnen, denen die männlich dominierte Justizverwaltung den Zugang zum höheren Dienst verstellte. Besonders gelungen ist das Kapitel zu den Hamburger Lehrerinnen und positiv hervorzuheben sind zudem jene, die sich mit Schankwirtinnen und Varietétänzerinnen befassen. Weniger überzeugend sind die Kapitel zu den Hamburger Juristinnen und zum Sozialpädagogischen Institut, die etwas additiv wirken und strukturelle Brüche in der Argumentation aufweisen. So bietet das Kapitel zu den Juristinnen zwar eine beeindruckende Zahl von Einzelbiographien, reiht diese aber nur aneinander und verschenkt damit erhebliches Analysepotential.
In der Gesamtschau fällt das Urteil dennoch positiv aus. Die Autorinnen liefern ein lebensnahes Bild vom politischen, gesellschaftlichen und beruflichen Alltag von Hamburger Frauen in den 1920er Jahren, da sich die von biographischen Skizzen ausgehend aufgebaute Argumentation bewährt. Sie ermöglicht eine dichte Beschreibung des Alltags von Hamburger Frauen und bietet zugleich eine schlüssige Analyse, die zu allgemeinen Aussagen und Wertungen vorstößt. So vermögen die Autorinnen deutlich zu machen, welche negativen Konsequenzen die nur halbherzig umgesetzte Formel von der Gleichbehandlung und Gleichberechtigung hatte. Das ergänzt die verschiedenen Studien, die zur Frauenbewegung und zur parlamentarischen Tätigkeit von Frauen in der Weimarer Republik in den letzten Jahrzehnten entstanden sind. [3] Der Band zeigt auch sehr klar, dass es sich bei dem bis heute kolportierten Bild von der "neuen Frau" als einer alleinstehenden und sportlichen Frau, die sich selbstbewusst mit Zigarette präsentiert und ihr Leben, ihre Sexualität sowie ihre Freizeit selbst in der Hand hat, um ein mediales Zerrbild handelt.
Anmerkungen:
[1] Hans Ostwald: Das galante Berlin, Berlin 1928, 131.
[2] Unter anderem: Christoph Sachße: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871-1929, Frankfurt am Main 1986; Iris Schröder: Soziale Frauenarbeit als bürgerliches Projekt, in: Klaus Tenfelde / Hans-Ulrich Wehler (Hgg.): Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, 209-230; Susanne Schötz (Hg.): Frauenalltag in Leipzig. Weibliche Lebenszusammenhänge im 19. und 20. Jahrhundert, Weimar / Köln / Wien 1997; Heide-Marie Lauterer: Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19-1949, Königstein 2002.
[3] Unter anderem: Ute Gerhard (Hg.): Feminismus und Demokratie, Königstein 2001; Hedwig Richter / Kerstin Wolff (Hgg.): Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa, Hamburg 2018.
Sabine Kienitz / Angelika Schaser (Hgg.): So ist die neue Frau? Hamburgerinnen in den 1920er Jahren, Frankfurt/M.: Campus 2024, 343 S., ISBN 978-3-593-51875-6, EUR 35,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.