sehepunkte 25 (2025), Nr. 5

Stephan Grigat / Jakob Hoffmann / Marc Seul u.a. (Hgg.): Erinnern als höchste Form des Vergessens?

Der 2023 erschienene Sammelband mit 17 Beiträgen versteht sich als Intervention in die Debatte, die sich seit A. Dirk Moses umstrittenem Essay "Der Katechismus der Deutschen" zum Stellenwert des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur entfaltete. Moses und andere wollen weder in der Shoah noch im NS-Antisemitismus spezielle Qualitäten erkennen, die den nationalsozialistischen Massenmord an Jüdinnen und Juden von kolonialen Genoziden fundamental unterscheidet. Die Debatte vermengt sich mit einer Auseinandersetzung um das Verhältnis von Antizionismus und Antisemitismus sowie der Diskussion um Postkolonialismus. Die Einleitung der Herausgeber analysiert dementsprechend kritisch, wo Moses ins Ressentiment abdriftet, anstatt den Charakter der deutschen Erinnerungskultur zu hinterfragen.

Der erste Abschnitt des Sammelbandes arbeitet die historische Spezifik der Shoah heraus, im zweiten Teil geht es um verschiedene Umdeutungsversuche der NS-Verbrechen seit 1945. Im dritten Abschnitt werden schließlich die museale (Nicht-)Repräsentation des Holocaust, Schuldabwehrtendenzen in den Memory Studies und pädagogische Schlussfolgerungen dargelegt.

Zu Beginn aktualisiert der 2024 verstorbene Yehuda Bauer in einem lesenswerten Interview seine These der Präzedenzlosigkeit und Ideologiegetriebenheit des Holocaust. Steven T. Katz dekonstruiert auf überzeugende Weise, wie die Gegner der Singularitätsthese die historischen Quellen nur selektiv berücksichtigen. Jeffrey Herf arbeitet systematisch die Überschneidungen und Unterschiede zwischen der NS-"Judenpolitik" und dem amerikanischen Rassismus heraus. Die Legitimationsstrategien zur Entrechtung der Schwarzen und Juden wiesen zwar strukturelle Parallelen auf. Doch dem anti-schwarzen Rassismus fehlte der Wahn von der allumfassenden jüdischen Weltverschwörung, die auf die Vernichtung der Deutschen abziele. Durch diese Ideologie legitimierte das NS-Regime den Massenmord an Jüdinnen und Juden als Präventivschlag.

Insgesamt gelingt es, die Spezifik der Shoah nachvollziehbar zu belegen. Aber ein stärkerer Bezug auf die Kolonialismus-Forschung hätte das Argument noch gestärkt. Anknüpfend an Stephan Lehnstaedts Beitrag über die Zentralität von Treblinka, Belzec und Sobibor im Holocaust hätte sich angeboten, den fundamental unterschiedlichen Zweck und Kontext dieser NS-Vernichtungslager im Vergleich zur kolonialen Masseninternierung zu diskutieren. Gleichsam wäre die Spezifik der in den letzten Jahren stärker erforschten Massenerschießungen im Vergleich zu den Massakern der sowjetischen Geheimpolizei zu eruieren, die im postsowjetischen Raum mit dem Holocaust vermengt werden.

Den zweiten Teil leitet Nicolas Bergs lesenswerter Beitrag ein. Er analysiert die dem Schicksalsbegriff deutscher Nachkriegshistoriker inhärente Selbstviktimisierung und Empathielosigkeit, die zugleich die spezifische Erfahrung der jüdischen Opfer negiert habe. Anja Thiele seziert anhand der Autobiographie und des literarischen Schaffens des jüdischen Kommunisten Peter Edel den Konflikt zwischen sozialistischer Ideologie und persönlichen Verfolgungserfahrungen. Letztere hätten sich nicht widerspruchsfrei in die postnationalsozialistische DDR-Gesellschaft und deren offiziöse Zukunftszugewandheit integrieren lassen, seien aber auch nicht gänzlich totzuschweigen gewesen.

Chronologisch müsste nun eine Darstellung des ursprünglichen Historikerstreits Mitte der 1980er Jahren folgen, die jedoch erst später kommt. Zunächst springt der Band in aktuelle Forschungsdebatten. Ingo Elbes präzise Analyse von Hannah Arendts Beschreibung des Holocaust als Folge totalitärer Entindividualisierung spürt dem Einfluss einer verkürzten Arendt-Rezeption auf die postkoloniale Theorie nach. Hieran anknüpfend dekonstruiert Steffen Klävers die Grundannahme von A. Dirk Moses, der Holocaust sei nicht die Folge antisemitischer Ideologie, sondern als "subalterner Genozid" das Resultat von kolonialistisch-imperialistischen Ordnungs- und Sicherheitsnarrativen: Die sich kolonisiert wähnenden Deutschen hätten die als Kolonisatoren wahrgenommenen Juden ermordet, so die Argumentation von Moses (300). Er liefert jedoch keine Belege dafür, dass die Täter zeitgenössisch ihre jüdischen Opfer als Kolonialmacht gesehen hätten.

Den vierten Abschnitt leitet Ljiljana Radonićs Überblicksdarstellung zur musealen Holocaust-Rezeption in tschechischen, slowakischen und kroatischen staatlichen Museen ein. Dieser ist aufschlussreich, bleibt aber in seinem Blick auf die Erinnerungskultur jenseits von Deutschland isoliert. Gerne hätte man noch weitere Beiträge wie den von Elke Rajal über die Holocaust Education gelesen. Niklaas Machunsky dekonstruiert die rebellische Pose im "Historiker-Streit 2.0" und zeigt, inwiefern ihr ein Revisionismus wie der von Ernst Nolte innewohnt. So zielten Aleida Assmann und andere mit Kritik an der Anti-BDS-Resolution des Bundestages von 2019 auf die antizionistisch motivierte Revision der besonderen deutschen Verantwortung gegenüber Israel. Der vermeintlich staatskritische Gestus, in dem die Warnung vor der vermeintlichen pro-israelischen Vereinnahmung der Holocaust-Erinnerung vorgetragen würde, sei allerdings irreführend. So sei die Kritik an der Staatsräson der Berliner Republik selbst staatstragend auf die internationale Reputation Deutschlands ausgerichtet. Hieran schließt Lars Rensmanns kritische Rekonstruktion der von Assmann mitentworfenen "Jerusalem Declaration" an. Diese falle hinter zentrale Erkenntnisse nicht nur der Antisemitismus- sondern auch der Rassismusforschung zurück.

Der Sammelband schlägt einen großen Bogen, und kann somit als gelungener Einstieg in die Thematik gewertet werden. Redundanzen hätten durch eine stärkere gegenseitige Bezugnahme der Aufsätze aufeinander verringert werden können. Mehrere Beiträge sind Nachdrucke oder gekürzte Varianten anderweitig veröffentlichter Arbeiten. Demgegenüber ließen sich der interdisziplinäre Zugang und die Aktualität des Themas hervorheben. Der stellenweise deutlich politische Tonfall in dem Moses "aktivistische" Wissenschaft (10) vorgehalten wird, muss nicht gefallen, wird dem Anspruch aber gerecht. Immer wieder fällt nämlich auf, dass im "Historikerstreit 2.0" offenbar maßgeblich nahostpolitisch motivierte Thesen entgegen der Quellen- und Forschungslage formuliert werden. Interessant wäre daher eine Rückbindung an die Debatte der 2000er Jahre gewesen, in der Birthe Kundrus und andere die von Jürgen Zimmerer postulierte Kontinuität zwischen kolonialen deutschen Konzentrationslagern wie Windhuk und dem NS-Lagersystem aufgrund von quellenanalytischen Auslassungen und unpräzisen Begrifflichkeiten zurückgewiesen hatten. [1]


Anmerkung:

[1] Birthe Kundrus: Kontinuitäten, Parallelen, Rezeptionen. Überlegungen zur "Kolonialisierung" des Nationalsozialismus, in: Werkstatt Geschichte 43 (2006), 45-62.

Rezension über:

Stephan Grigat / Jakob Hoffmann / Marc Seul u.a. (Hgg.): Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der „Historikerstreit 2.0“, Berlin: Verbrecher Verlag 2023, 471 S., ISBN 978-3-95732-570-9, EUR 29,00

Rezension von:
Philipp Dinkelaker
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Philipp Dinkelaker: Rezension von: Stephan Grigat / Jakob Hoffmann / Marc Seul u.a. (Hgg.): Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der „Historikerstreit 2.0“, Berlin: Verbrecher Verlag 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 5 [15.05.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/05/38810.html


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