sehepunkte 25 (2025), Nr. 6

Tomáš Nigrin: The Rise and Decline of Communist Czechoslovakia's Railway Sector

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme hatten die staatlichen Eisenbahnen in zahlreichen ostmitteleuropäischen Ländern mit erheblichen Problemen zu kämpfen. Veraltete Fahrzeuge, marode Infrastruktur und ein überproportionierter Personalapparat führten mehrfach beinahe zum Bankrott. Die Ursachen hierfür sind maßgeblich in den Jahren der kommunistischen Herrschaft zu suchen. Für den tschechoslowakischen Fall zeigt dies Tomáš Nigrin in seinem hier zu besprechenden Buch. Sein Fokus liegt auf den 1970er und 1980er Jahren und damit, wie er schreibt, auf der "Stagnation" (2), die die Politik dieser beiden Dekaden für die tschechoslowakische Bahn bedeutete.

Nigrin interessiert sich für die Stellung der Bahn sowohl innerhalb der Verkehrspolitik als auch in der gesamten Volkswirtschaft, da erst diese Situierung ein Verständnis der Ursachen für Stagnation und Niedergang der tschechoslowakischen Bahn ermögliche. Entsprechend argumentiert der Autor, dass die politisch gewollte künstliche Aufrechterhaltung der Bedeutung der Bahn in den 1970er und 1980er Jahren - zu einem Zeitpunkt, als im westlichen Europa bereits die Straße die Schiene als Verkehrsträger überflügelt hatte - diese letztlich in einen Teufelskreis geführt habe: Zwar konnte die tschechoslowakische Bahn so die quantitativen Vorgaben der Fünfjahrespläne hinsichtlich transportierter Güter und Passagiere erfüllen. Weil jedoch Investitionsmittel und Ansätze zur Effizienzsteigerung und Rationalisierung fehlten, stiegen die Betriebskosten, wurde der Service schlechter und verfiel die Infrastruktur zusehends.

Zur Erläuterung dieser These greift Nigrin auf einen politikwissenschaftlichen Ansatz zurück: Er unterteilt die Verkehrspolitik in die Bereiche polity, policy und politics. Auf das Beispiel der tschechoslowakischen Bahn übertragen stellt sich für Nigrin erstens die Frage nach der Position des Verkehrssektors im System der zentralen Planwirtschaft. Zweitens untersucht er, wie die Vorgaben aus diesem System im Verkehrssektor konzipiert und umgesetzt wurden. Drittens geht es um die Tschechoslowakischen Staatsbahnen (Československé Státní Dráhy, ČSD) als dominante Organisation in diesem Sektor. Als Quellen nutzt der Autor hauptsächlich die Bestände des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei und des Verkehrsministeriums.

Diesem Ansatz folgend ist das Buch nach einer Einleitung, die Untersuchungsgegenstand, Anliegen und Methode vorstellt, in drei große Kapitel gegliedert, denen ein Kapitel zur Geschichte der tschechoslowakischen Bahn von 1918 bis 1970 vorangestellt ist. In diesem beschreibt der Autor informativ, wenn auch an einigen Stellen etwas länglich und weitestgehend deskriptiv, die dominante Stellung der Bahn in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg (dies allerdings sehr kurz) und den Wiederaufbau nach 1945. Dabei stieg das Transportvolumen der Bahn bis 1970 vor allem wegen des wirtschaftspolitischen Fokus auf die Schwerindustrie stark an.

Anschließend befasst sich das erste der drei großen Kapitel mit den Akteuren und Institutionen der Verkehrspolitik. So legt Nigrin etwa die Geschichte des Verkehrsministeriums dar, das von 1969-1971 kurzzeitig in ein jeweils eigenständiges tschechisches und slowakisches Ministerium aufgeteilt war. Außerdem wird die Stellung der Verkehrspolitik in der zentralen Planwirtschaft erörtert. Ein eigener Abschnitt ist der Verkehrsaußenpolitik (foreign policy of railway transport) gewidmet, also der Zusammenarbeit mit anderen staatlichen Eisenbahnen in kommunistischen, aber auch westeuropäischen Ländern. Auf dieses Thema geht Nigrin auch an späterer Stelle noch einmal ausführlicher ein.

Das folgende Kapitel behandelt die "Internal Mechanisms of the Railway Sector". Hier stellt der Autor zunächst detailliert und etwas repetitiv die Vorgaben der einzelnen Fünfjahrespläne für die Bahn vor. Die in dem Kapitel enthaltene Fallstudie zu den Spartakiaden ist dagegen überaus aufschlussreich, weil sie Nigrins Argument unterstützt, dass die Bahn häufig zur Erfüllung politischer Aufträge herangezogen worden sei, ohne auf wirtschaftliche Kriterien Rücksicht zu nehmen. Gleiches gilt für die anschließend beschriebene strategische Funktion der Bahn im Kriegsfall, die die Instandhaltung unrentabler Strecken erforderlich machte. Den Ausführungen zu den wirtschaftlichen Mechanismen im Bahnbereich fehlt dagegen ein roter Faden.

Unter dem etwas irreführenden Titel "Conditions in the Railway Sector" wird im nächsten Kapitel die Situation der tschechoslowakischen Bahn in den 1970er und 1980er Jahren analysiert. Dazu geht der Autor auf den operationalen Betrieb und die Personalsituation ein. Hier kann Nigrin an zahlreichen Beispielen den von ihm eingangs diagnostizierten Teufelskreis verdeutlichen: von den durch Frachtverkehr völlig überladenen Hauptstrecken über die verzögerte Ablösung von Dampfloks bis hin zur notorischen Knappheit qualifizierten Personals. Der abschließende Abschnitt widmet sich ausführlich der internationalen und bilateralen Kooperation der ČSD. Zusammenfassend stellt Nigrin fest, dass das Zusammenspiel politischer Entscheidungen auf höchster Ebene, eines chronischen Mangels an Investitionsmitteln und struktureller Fehler dazu geführt habe, dass die ČSD sich im Untersuchungszeitraum statt auf den Pfad der Modernisierung in eine "lethargic isolation" (205) begeben habe.

Insgesamt argumentiert das Buch überzeugend und liest sich mit Ausnahme einiger Längen in den eher deskriptiven Teilen gut. Die thematische Gliederung ist nachvollziehbar, wobei sich allerdings an einigen Stellen Doppelungen ergeben und die Einteilung der einzelnen Abschnitte in den drei Hauptkapiteln (besonders im zweiten) nicht immer zu überzeugen vermag. Kleinere Kritikpunkte betreffen etwa die konsequente Wiederholung der vollständigen bibliografischen Angaben in den Fußnoten anstelle von "ibid.", was den Anmerkungsapparat unnötig aufbläht. Außerdem hätte der Autor noch stärker nichtoffizielle Quellen wie die an einigen Stellen angeführten Beschwerdebriefe verwenden können, um diese mit der behördlichen Darstellung zu kontrastieren. In den Abschnitten zur bilateralen Kooperation wäre eine genauere Darstellung der Entwicklung der Bahn in den jeweiligen Ländern (Bundesrepublik, DDR, Polen und Ungarn) nützlich gewesen, um etwaige Spezifika des tschechoslowakischen Beispiels besser erkennen zu können.

Diese Anmerkungen sind allerdings eher als Aufforderung zu weiteren Forschungsarbeiten zu sehen, die auf den von Nigrin zusammengetragenen Erkenntnissen aufbauen können.

Rezension über:

Tomáš Nigrin: The Rise and Decline of Communist Czechoslovakia's Railway Sector, Budapest: Central European University Press 2022, XIII + 241 S., ISBN 978-963-386-476-0, EUR 63,00

Rezension von:
Elias Oppenrieder
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Elias Oppenrieder: Rezension von: Tomáš Nigrin: The Rise and Decline of Communist Czechoslovakia's Railway Sector, Budapest: Central European University Press 2022, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 6 [15.06.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/06/40330.html


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