Der Sammelband gliedert sich in zwei Teile: Die erste Hälfte behandelt in vier Beiträgen die Rezeption Griechenlands und seiner Kultur in Ciceros Werken; die zweite Hälfte untersucht umgekehrt die Rezeption Ciceros in der griechischsprachigen Welt. Somit ordnet sich der erste Teil des Bandes in die gängige Cicero-Forschung ein, die seit jeher die Frage behandelt, wie stark Ciceros Werke von griechischen Vorbildern geprägt sind. Allerdings geht es hier weniger um die (vermeintliche) Abhängigkeit Ciceros von konkreten griechischen Philosophen, sondern eher um die Präsenz Griechenlands in seinen Schriften. Besonders innovativ und aufschlussreich ist der zweite Teil: Er greift das bislang außerhalb Griechenlands wenig erforschte Nachwirken Ciceros in Byzanz und im modernen Griechenland auf.
Im ersten Beitrag ("Athens' Authority in Cicero's Philosophical Works") arbeitet Georgia Tsouni die emotionale Aufladung griechischer Orte wie der klassischen Philosophenschulen in Athen für die Römer heraus. Speziell Athen erscheint als zwar verehrungswürdiger Ort, ist aber aufgrund der dort situierten Philosophenschulen mit otium assoziiert. Cicero hingegen beansprucht für Rom und seine eigenen philosophischen Werke auch eine politische Relevanz, d.h. Philosophie steht immer im Dienst aktiver Politik. Insofern hat die griechische Philosophie für ihn eher eine propädeutische Funktion und kann nicht als Ganze Vorbild für Rom sein. Unterstützt wird diese These auf einer konkreten biographischen Ebene im folgenden Beitrag von Gabriel Evangelou ("Loss of Self, Desperation, and Glimmers of Hope in Cicero's Letters from Exile"). Hier wird klar, dass Cicero während des Exils nach seinem Konsulat Griechenland zwar als sicheren Hafen empfindet, sich jedoch in Griechenland fremd fühlt und unbedingt nach Rom zurückwill.
Die besondere Bedeutung der Stadt Athen kommt im Beitrag von Ximing Lu zu Ciceros Lehrbrief De officiis ("Mercatura Bonarum Artium") zum Ausdruck: Ciceros Bild der griechischen Philosophie als mercatura bonarum artium - also gewissermaßen als einer erwerbbaren "Handelsware" - betont wiederum die eher propädeutische Bedeutung griechischer Bildung. Überhaupt besaß Griechenland als Ziel teurer Bildungsreisen eine wichtige Funktion als Statussymbol. Der letzte Beitrag des ersten Teils von Matilde Oliva ("Eloquence as Handmaiden of Wisdom") untersucht den Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik in Ciceros Werk, die hier nicht als Gegensatz, sondern als organische Einheit verstanden werden - ähnlich wie schon in der Platonischen Akademie. Wie Oliva zu Recht hervorhebt, impliziert der Rückgriff auf den Skeptizismus der Akademie die Offenheit und den nicht-dogmatischen Charakter von Ciceros Philosophie, die sich nicht auf eine einzige Schule zurückführen lässt, sondern eher eine Art "syncretism" darstellt. Dies unterstreicht zum Abschluss des ersten Teils noch einmal den selbständigen Umgang Ciceros mit der griechischen Tradition.
Im zweiten Teil zeigt Fernanda Maffei in ihrem Beitrag ("Preliminary Remarks on the Technical Language of the Bilingual Glossaries of Cicero") die Präsenz von Cicero-Texten in den kaiserzeitlichen und spätantiken Papyri Ägyptens auf: Cicero gehörte nach Vergil zu den am häufigsten gelesenen lateinischen Autoren in der griechischsprachigen Osthälfte des Imperium Romanum. Besonders seine Reden wurden viel gelesen. In den lexikalischen Annotierungen spielt das juristische Fachvokabular eine herausragende Rolle, weil Cicero offenbar als Quelle für römisches Recht gern benutzt wurde. In byzantinischer Zeit nahm die Präsenz lateinischer Autoren naturgemäß stark ab, doch wurde Cicero durchaus noch wahrgenommen, wie Tiziano Ottobrini am Beispiel des Photios (9. Jahrhundert) zeigt ("Cicero and Photius"). Dieser byzantinische Gelehrte und Theologe präsentiert Cicero weniger als den größten Redner Roms, sondern eher als tragische Figur und aufgrund seines Charakters und allzu scharfen Humors gescheiterten Politiker. Allerdings fußte Photios' Cicero-Kenntnis nicht mehr auf der Lektüre der lateinischen Originalschriften, sondern auf der Benutzung des kaiserzeitlichen Universalgelehrten Plutarch.
Den Bereich der neugriechischen Cicero-Rezeption behandelt Vasileios Pappas in seiner umfassenden Untersuchung zu griechischen Cicero-Übersetzungen im 19. Jahrhundert ("Greek Translations of Cicero's Works in the Nineteenth Century"). Nachdem es schon im 13. Jahrhundert und sogar nach dem Fall Konstantinopels (1453) noch eine Reihe von Übersetzungen (erstaunlicherweise in der Volkssprache Dhimotikí!) gegeben hatte, wird Cicero in der Zeit der griechischen Selbständigkeit im 19. Jahrhundert. zum meist übersetzten lateinischen Autor. Doch nun kehren die Übersetzer häufig wieder zur quasi altgriechischen Kunstsprache Katharévousa in ihren Übertragungen zurück. Dies gilt v.a. für die zum Schulgebrauch produzierten Cicero-Übersetzungen: Nach der Thronbesteigung des Wittelsbachers Ottos I. als griechischer König (1832) wurde das griechische Bildungswesen nach deutschem Vorbild organisiert; Cicero wurde zu einem der zentralen Schulautoren im nun neu installierten Lateinunterricht. Hierfür wurden v.a. die Cicero-Reden in die Katharévousa übersetzt, während die für ein breiteres Lesepublikum intendierten philosophischen Schriften Ciceros eher in der Volkssprache erschienen. In diesem Zusammenhang ist als konkretes Einzelbeispiel die erste neugriechische Übersetzung von Ciceros Dialog De re publica (1839) durch den Philologen Viaros Kapodistrias interessant, die vom Band-Herausgeber Ioannis Deligiannis vorgestellt wird ("The First Greek Translation of Cicero's De re publica"): Kapodistrias war der Bruder des griechischen "Gouverneurs" bzw. Regierungschefs Graf Ioannis Kapodistrias und hatte seine Cicero-Übersetzung (in der Volkssprache) zunächst anonym herausgebracht. Von Bedeutung ist hier der o.g. politische Kontext: Es gab in jener Zeit eine lebendige Diskussion in Griechenland über die zukünftige Staatsform des von den Osmanen unabhängig gewordenen Landes: Der mit gerade 17 Jahren König gewordene Otto war u.a. wegen seines absolutistischen Regierungsstils bei den Griechen unbeliebt. Kapodistrias wollte seinen Landsleuten mit der Übersetzung eine Art Diskussionsgrundlage zu den aktuellen Verfassungsfragen geben, sprach sich Cicero doch einerseits für eine gemäßigte monarchische Staatsform aus, hielt aber die römische Verfassung aufgrund ihrer demokratischen und aristokratischen Elemente für ideal.
Im Ganzen gibt der Sammelband einen höchst instruktiven Einblick in die Wechselbeziehung zwischen Cicero und Griechenland aus ganz unterschiedlichen und vielfach überraschenden Perspektiven. Nicht zuletzt der zweite Teil mit seiner organischen Verbindung von Kulturgeschichte, griechischer Politik und Cicero-Rezeption ist ohne Frage ein großer Gewinn für ein nicht-griechisches Lesepublikum.
Ioannis Deligiannis (ed.): Cicero in Greece, Greece in Cicero. Aspects of Reciprocal Reception from Classical Antiquity to Byzantium and Modern Greece (= Cicero. Studies on Roman Thought and Its Reception; Vol. 9), Berlin: De Gruyter 2024, VIII + 274 S., ISBN 978-3-11-121589-1, EUR 79,95
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