sehepunkte 25 (2025), Nr. 9

Michael Rocher: »Mit neuem Eifer an der Bildung junger Leute zu arbeiten«

Wohl kaum eine Geschichte der deutschsprachigen Pädagogik kommt ohne eine Würdigung oder zumindest Erwähnung des Pädagogii Regii in Halle und des Philanthropins in Dessau aus. Entsprechend hoch liegt die Messlatte, wenn eine Neuerscheinung die beiden Bildungseinrichtungen einmal mehr zum Thema macht, und ausgetretene Pfade locken und drohen dem Verfasser gleichermaßen.

Die vorliegende Monographie ruht auf einer Dissertation, die 2022 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit unter der Betreuung von Andreas Pečar und Holger Zaunstöck angenommen wurde. Ihre Besprechung wird, der jahrelangen Tätigkeit des Rezensenten am anhaltischen Archiv geschuldet, die Ergebnisse zum Dessauer Institut als Schwerpunkt haben.

Der räumliche Rahmen der Arbeit ist weitgezogen. Anders als der Titel nahelegt, werden weitere, nach Territorium und Gattung vergleichbare Schulen fallweise herangezogen, konkret das Rittercollegium in Brandenburg an der Havel, die Gymnasia illustria in Zerbst und Gotha, die Erziehungsanstalt in Schnepfenthal, die akademische Ritterschule und das städtische Gymnasium in Reval. Gemeinsam ist ihnen in der von Rocher favorisierten bildungsräumlichen Perspektive ihre protestantische Prägung und ihre Mittelstellung als weiterführende Schulen ohne Universitätsstatus.

Naturgemäß fällt der erste Blick eines rezensierenden Archivars in das Verzeichnis der benutzten Quellen, und dieses beeindruckt nicht nur durch den Umfang, sondern ist für den Charakter der Arbeit auch konstitutiv. Im Fokus stehen nämlich nicht die sattsam bekannten Schriften, sondern deren praktische Umsetzung. Was derart unprätentiös daherkommt, erweist sich als durchaus innovativ: Denn von wenigen Autoren wie Michael Niedermeier und Michael Rohleder abgesehen, pries oder verdammte man das Dessauer Institut auf Grundlage seiner gedruckten Programmschriften. Mit diesem Vorgehen von den - durchaus reichlich vorhandenen - Originaldokumenten entkoppelt, lesen sich viele Darstellungen als Rückprojektionen jeweils aktueller pädagogischer Wunschvorstellungen.

Michael Rocher beginnt mit einer ausführlichen Geschichte der beiden Schulen, die über reine Chronistik weit hinausgeht. So kann er in einem Exkurs darlegen, dass die Förderung durch Fürst Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau nicht in dessen vielbehaupteter Aufgeklärtheit wurzelt, sondern Teil seiner Repräsentationsstrategie war, womit Fürst und Schule in wechselseitiger Abhängigkeit verbunden waren. Vor allem daraus erklärt sich, dass Franz trotz häufiger Querelen über einen so langen Zeitraum an ihr festhielt.

Der systematische Teil analysiert zunächst die Schülerschaft. Hier hoben sich die beiden Schulen durch ihren überregionalen Anspruch von den stark auf ihr Territorium bezogenen Vergleichsanstalten ab. Da Rocher auch die Berufe der Väter einbezieht, kann er zeigen, dass in Halle und Dessau ein breites Spektrum an Oberschichtsberufen zu finden war, vergleichbar der Anstalt in Schnepfenthal, nicht aber den homogeneren anderen Schulen. Ähnlich verläuft die Trennlinie hinsichtlich des weiteren Lebenswegs, der bei den Gymnasien in aller Regel zum Universitätsbesuch, am Pädagogium Regium und am Philantropinum oft aber direkt in einen Beruf führte. Innovativ für künftige Matrikelanalysen ist ein Exkurs, der die Rekrutierungsmechanismen der Schulen betrachtet, die gerade in Halle und Dessau stark von ihrer Reputation abhingen, woraus sich auch die große publizistische Sichtbarkeit erklärt. Dass persönliche Beziehungen und Netzwerke nicht unwichtig waren, wird ebenfalls deutlich.

Hierauf stellt der Autor die Frage, ob und wie sehr die Unterrichtswirklichkeit den innovativen Anspruch denn auch einlöste. Während etwa der Bewegungsunterricht als wirkliche Innovation des Philanthropins gelten kann, lagen die untersuchten beiden Schulen auf Feldern wie aktivem Sprachunterricht und Einbeziehung von Realien eher im Trend, als dass sie ihn setzten. Inhaltlich öffnete man weit eher einen adeligen Bildungskanon für Bürgerliche als einen genuin bürgerlichen Bildungskanon zu etablieren, während der Leistungsgedanke hinter einer Orientierung an bestimmten moralischen Normen zurückstand. Die Durchsetzung neuer Methoden litt vor allem am Philanthropinum häufig unter organisatorischen Defiziten. "Beide Schulen waren viel abhängiger von den zeitgenössischen Entwicklungen als bisher angenommen", resümiert Rocher (468).

Des Hervorhebens wert ist ein äußerst instruktiver Anhang, der u.a. die Matrikel des Philanthropins beinhaltet. Zu bedauern ist allerdings, dass deren Abdruck nicht durch Register und Anmerkungen ausgebaut wurde, was - ggf. im Rahmen einer Online-Edition - für eine schul- und personengeschichtliche Quelle dieses Rangs wünschenswert wäre. Für prosopographische und genealogische Fragestellungen unbefriedigend ist auch, dass im Personenregister nur einmalig genannte Personen nicht auftauchen.

Das Pädagogium Regium in Halle und das Gymnasium Philanthropinum in Dessau verstanden sich als Schulen, die zwischen dem herkömmlichen Gymnasium und der Universität eine höherwertige und zeitgemäßere Bildung für die Zöglinge der Eliten vermittelten. Damit konnten sie Aufmerksamkeit nicht nur unter ihren Zeitgenossen generieren, sondern auch unter Forschungsdisziplinen sehr unterschiedlichen Zuschnitts wie Pädagogik, Philosophie, Theologie, Literaturwissenschaft und Geschichte. Michael Rocher gebührt das Verdienst, die Geschichte zweier profilierter Schulen aus den Quellen neu erarbeitet sowie mit schlüssigen Deutungen des tatsächlichen Schulgeschehens vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben.

Rezension über:

Michael Rocher: »Mit neuem Eifer an der Bildung junger Leute zu arbeiten«. Das Pädagogium Regium Halle und das Philanthropin Dessau im bildungsräumlichen Vergleich (= Hallesche Forschungen; Bd. 69), Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle 2025, XII + 539 S., ISBN 978-3-447-12273-3, EUR 89,00

Rezension von:
Andreas Erb
Stadtarchiv Amberg
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Erb: Rezension von: Michael Rocher: »Mit neuem Eifer an der Bildung junger Leute zu arbeiten«. Das Pädagogium Regium Halle und das Philanthropin Dessau im bildungsräumlichen Vergleich, Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 9 [15.09.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/09/40126.html


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