Diese Anthologie ist das Ergebnis des Projekts "Saints and Heroes from Christianization to Nationalism: Symbol, Image, Memory (Nord-West Russia, Baltic and Nordic countries)", das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. Gleich zu Beginn sollte hervorgehoben werden, dass die Autoren der Publikation weit über die traditionellen Studien zu Heiligenkulten und der Erinnerung an Helden hinausgehen, die üblicherweise auf die Analyse von Legenden und hagiografischen Überlieferungen sowie die Bedeutung solcher Kulte in früheren Jahrhunderten fokussiert sind. In der riesigen Fülle derartiger Veröffentlichungen stellt das von Cordelia Heß und Gustavs Strenga herausgegebene Buch eine äußerst interessante Sammlung von Beiträgen dar.
Die Autoren der zwölf Studien enthüllen die Prozesse hinter der Heroisierung und Sakralisierung mittelalterlicher Figuren im Ostseeraum im 19. und 20. Jahrhundert. Allgemein gesprochen geht es um die Neuinterpretation der Bedeutung von Heiligen und Helden im historischen Gedächtnis ausgewählter Gemeinschaften und infolgedessen um ihren Einfluss auf die Gestaltung moderner Identitäten. Dass es gelingt, ein facettenreiches Bild von diesen Transformationen zu gewinnen, wird durch die Integration unterschiedlicher lokaler Perspektiven in den globalen Kontext der Forschung zum Mediävalismus des 19. und 20. Jahrhunderts ermöglicht. Die Herausgeber verbinden nicht ohne Grund die Persönlichkeitstypen "Heilige" und "Helden", da sie eine äußerst wichtige gemeinsame Eigenschaft besitzen: Sie sind außergewöhnlich - oder werden zumindest so wahrgenommen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um reale oder fiktionale Figuren handelt. Die Prozesse ihrer Sakralisierung und Heroisierung verlaufen ähnlich: Eine Person wird aus dem Bereich der alltäglichen Sorgen (profanum) in den Bereich des Außergewöhnlichen (sacrum) erhoben. Trotz der tiefgreifenden Unterschiede in ihren Biografien genießen mittelalterliche Heilige und Helden hohes Ansehen, das die Erinnerung an sie über Jahrhunderte fortbestehen lässt. Viele von ihnen erlangten den Status eines "Nationalhelden" oder zumindest einer Figur von großer Bedeutung für die Geschichte einer Nation. Dies verbindet scheinbar so unterschiedliche Figuren wie William Wallace und die Hl. Brigitta oder Jeanne d'Arc und den lettischen Krieger Imanta. Ihr "Leben nach dem Tod" diente der Schaffung nationaler Identitäten im Prozess des doing memory, der in der Epoche der Romantik besonders stark präsent war.
Sari Katajala-Peltomaa hebt die Rolle der Erinnerung an die Hl. Brigitta als Instrument zur Schaffung kollektiver Identität und des doing memory im nachreformatorischen Finnland hervor und zeigt, wie Heilige in den Debatten über nationale und lokale Identität eingesetzt wurden. Kristina Jõekalda analysiert auf eindrucksvolle Weise den Kontrast zwischen der Jungfrau Maria und Linda (einer Figur aus der estnischen Mythologie) als konkurrierende Symbole im baltischen Raum und betont ihre unterschiedlichen Ursprünge, Funktionen und ihre Nutzung in nationalen Narrativen. Strenga beschreibt die Entwicklung des Bildes von Imanta von einem mittelalterlichen Bischofsmörder zu einem lettischen Nationalhelden und verdeutlicht, wie die romantische Fiktionalität und die nationalen Bedürfnisse jener Zeit seine Beständigkeit als Symbol des Freiheitskampfes beeinflussten. Steffen Hoppe zeigt, wie die Figur König Knuts IV. des Heiligen in Odense heutzutage zur Schaffung einer städtischen Identität verwendet wird, und beschreibt die vielfältigen Interpretationen seiner Geschichte und Symbolik. Im Aufsatz von Marianna Shakhnovich lesen wir über den Kult der Hl. Olga und darüber, wie die Volksreligion komplexe theologische Ideen an die alltäglichen Bedürfnisse und Traditionen lokaler Gemeinschaften anpasste.
Anna Ripatti und Henrik Ågren befassen sich nicht mit lokalen, sondern mit nationsbildenden Themen. Die Autoren analysieren, auf welche Weise historische Persönlichkeiten wie Tyrgils Knutsson und der Hl. Erik in unterschiedlichen politischen und ideologischen Kontexten neu interpretiert wurden: Die Erinnerung an Knutsson wurde in Finnland genutzt, um Diskussionen über Kolonisation und nationale Autonomie zu führen, während Erik unter dem Einfluss der Aufklärung als nationales Symbol marginalisiert wurde. Die drei folgenden Texte von Mart Kuldkepp, Jan Rüdiger und Kati Parppei bieten tiefgehende Analysen dazu, wie mittelalterliche Figuren und Ereignisse im Kontext von Nationalismen, sich verändernden Grenzen und politischen Spannungen neu interpretiert wurden. Zusammenfassend betont Anti Selart, wie Heilige und Helden im Ostseeraum in Reaktion auf sich wandelnde gesellschaftliche und politische Bedürfnisse neu interpretiert wurden und eine zentrale Rolle bei der Schaffung nationaler Identitäten und historischer Narrative im 19. und 20. Jahrhundert spielten.
Wichtig im Kontext globaler Studien ist der Blick auf die Ostseeregion, deren Geschichte stets heterogen und dynamisch war. Vom Mittelalter bis heute war die Region Schauplatz dramatischer politischer Ereignisse und zahlreicher Konflikte, wobei die Erfahrungen aus den mittelalterlichen Geschehnissen spätere Einstellungen grundlegend formten. Ich persönlich verstehe jedoch nicht, warum das Thema des doing memory über Heilige und Helden bezüglich zweier nationaler Kulturen des Ostseeraums - der polnischen und der litauischen - in diesem Band nicht aufgegriffen wurde. Gerade auf dem Gebiet der ehemaligen "Republik beider Nationen" prägten im 19. und 20. Jahrhundert Heiligenkulte und die Erinnerung an mittelalterliche Helden Generationen von Polen und Litauern, wurden in der Tagespolitik genutzt und waren eines der wichtigsten Topoi in der Massenkultur. Der litauische Großfürst Vytautas, einer der Sieger der Schlacht bei Tannenberg (Grunwald, Žalgiris), symbolisierte eine unnachgiebige Haltung sowohl gegenüber den Polen als auch später gegenüber den Deutschen. Er war eine der beliebtesten Figuren in Romanen und Theaterstücken, die das historische Gedächtnis der Litauer prägten. In den polnischen Teilungsgebieten im 19. Jahrhundert war die Figur des Hl. Stanislaus, des Bischofs von Krakau, eines der historischen und frommen Motive, auf die sich die Träume der Polen von der Wiedererlangung der Unabhängigkeit stützten. Bereits im Mittelalter wurde sein Kult mit der Forderung nach der Wiedervereinigung des in Herzogtümer zersplitterten Königreichs Polen in Verbindung gebracht, und in Zeiten nationaler Unterdrückung kehrte diese Idee mit doppelter Kraft zurück. Die Figur des Hl. Stanislaus wurde später sogar von der kommunistischen Propaganda genutzt, jedoch in einem negativen Licht, als hartnäckiger Feind staatlicher Strukturen.
Trotz dieser großen Lücke leistet das Buch einen bedeutenden Beitrag zur Forschung über die Rezeption des Mittelalters in der Moderne in ausgewählten Regionen des Ostseeraums. Die Autoren analysieren die Prozesse der Heroisierung und Sakralisierung, die die Bildung nationaler Identitäten beeinflussten, und weisen auf die Vielfalt ihrer lokalen Ausprägungen hin. Zukünftige Forschungen sollten die Problematik der Wechselwirkungen zwischen lokalen und globalen Narrativen beim Aufbau des Gedächtnisses über mittelalterliche Heilige und Helden weiterentwickeln, um ein vollständigeres Bild dieser Prozesse zu liefern.
Cordelia Heß / Gustavs Strenga (eds.): Doing Memory. Medieval Saints and Heroes and Their Afterlives in the Baltic Sea Region (19th-20th Centuries), Berlin: De Gruyter 2024, X + 300 S., ISBN 978-3-11-135062-2, EUR 99,95
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