Der Codex traditionum [...], continens donationes, fundationes commutationesque [...] wie ihn der Klosterneuburger Bibliothekar und Archivar Maximilian Fischer in seiner Ausgabe von 1851 bezeichnet hat, ist eine unschätzbare Quelle für die Geschichte von Wien und von dessen näherem und weiterem (nieder-)österreichischem Umfeld im Hochmittelalter und darüber hinaus für die vielfältigen Auswertungsmöglichkeiten, die diese reiche Quellengattung bietet. Die Handschrift wurde im vierten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts angelegt und mit Abständen bis ins sechste Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts fortgeführt. Sie diente der Kanonikergemeinschaft (1113 Säkular-, ab 1133 Regularkanoniker) danach als besitzsichernde Quelle für Urbare und allenfalls für Urkunden. Die nach und nach ad hoc angefertigten losen Lagen gerieten bald in Unordnung, wurden daher in falscher Abfolge über drei Jahrhunderte später foliiert und in dieser (Un-)Ordnung 1768 gebunden. Ihr entsprach auch der mit einem Register und Kommentaren versehene erste Druck im Jahr 1851. [1]
Der irreführende Untertitel der Neuedition ist "einer Art Titel" auf dem hinteren Deckblatt der letzten Lage aus späterer Zeit entnommen (25).
Das einleitende Kapitel "Vom werdenden Land" (13-21) verwundert in einer Edition. Es enthält u.a. eine Propstliste bis 1279, eine Babenbergergenealogie von Leopold III. bis Leopold V., (die Annahme einer erste Ehe Markgraf Leopolds III. ist ungesichert) und Bemerkungen über die Anfänge der Kanonikergemeinschaft. Die beigefügte Landkarte "Markgrafschaft / Herzogtum Österreich im 12. und 13. Jahrhundert" (15) ignoriert die Herrschaft der Otakare "de Stire".
Im zentralen Kapitel "Die Handschrift" (23-47) werden unterschiedliche Materien paradigmatisch behandelt wie "Die äußere Gestalt" (23-25), "Zur Edition" (25-26, Bemerkungen über Datierungen anhand von Literatur und Zuordnung der einzelnen Rechtshandlungen in die Zeiten Markgraf Leopolds III. bzw. der einzelnen Pröpste), "Zu den Vorlagen" (28-32, meist anhand von Beobachtungen an der Vita Meinwerci [episcopi Patherbrunnensis], mit einem nicht analysierten Beispiel einer Mehrfacheintragung im Codex), "Auf dem Weg zur Schriftlichkeit" (32-34, mit Hinweisen auf Genannte im Traditionsbuch und im Nekrolog), "Struktur und Funktion"(34-38), "Gegenleistungen oder Geschäfte" (39-40), "Reisekosten und andere Geschäfte" (40-41), "Preise und Zinsleistungen" (41-44, Geldangaben, Zinstermine, Besitzbezeichnungen und -größen, über letztere hätte man gerne mehr erfahren, auch über die Funktionen genannter Personen wie z.B. den villicus), "Personen" (45-46, statistische Angaben, Rangbezeichnungen; detaillierte Analysen werden in Aussicht gestellt), "Schluss" (46-47). Auf eine paläographische Analyse mit einer nahezu unlösbaren Unterscheidung der Hände wurde prinzipiell verzichtet, ebenso auf Angaben zu den diplomatischen Formen, zu Namen und Sprache.
In der nun vorliegenden Edition von 812 Nummern mit Textapparat wurde "zur einfacheren Benützung der älteren Literatur und anderer Editionen" Fischers Nummernzählung beibehalten (25), vom "überlieferten Zustand der Handschrift" ausgegangen (51), eine schwer verständliche, fatale Entscheidung. Eine Nummernkonkordanz im Anhang und in der Edition die Beifügung der Fischer-Nummern in Klammer hätte für die erforderliche Benutzbarkeit gesorgt. [2] Die ursprüngliche Abfolge der einzelnen Blätter bzw. Lagen wurde vor gut sechs Jahrzehnten rekonstruiert und damit die Grundlage für eine Edition in der originalen Gestalt geschaffen. Die Nr. 1 der vorliegenden Edition gibt nun nicht den ursprünglichen Beginn der Handschrift wieder, die ersten Dotationen der Säkularkanonikergemeinschafts-Gründung (nn.121 und 122=142=86 in variierender diplomatischer Einkleidung), sondern einen späten Eintrag auf dem Umschlag der ersten Lage. Die ohnehin schwierigen Datierungen werden noch unübersichtlicher, relative chronologische Abfolgen nicht darstellbar. Inhaltlich identische Texte in variierender diplomatischer Einkleidung, mitunter durch Mitteilung späterer Entwicklungen angereichert, sind an unterschiedlichen Stellen abgedruckt. Mehrfacheintragungen erlauben nicht nur einen sicheren Blick auf die Vorlagen in inhaltlicher, sondern auch in graphischer Hinsicht: Lesefehler lassen Rückschlüsse auf Vorlagentexte zu, wie z.B. Sigito / Sigitho statt Sigilo (24=153, Abb. Seite 30 und 31). In die Oberlänge reichende r und z wurden mitunter vom Kopisten verlesen, Lesefehler Fischers finden sich mitunter in der Neuedition (Text und Register) wieder: Hebilinan statt Hebirman, Hahichin (Dativ) statt Hazichin, nn. 21 und 117, die auf dieselbe Vorlage zurückgehen; n.117 wurde nicht nur unter Propst Marquard eingetragen, sondern das nach der Vorgeschichte berichtete Ereignis fand während seiner Amtszeit statt.
Die einzige erhaltene Vorlage, ein zwischen die Blätter geratener Pergamentstreifen mit den Namen von Zensualen beiderlei Geschlechts, der wohl ursprünglich im Rahmen einer Traditionshandlung auf den Marienaltar gelegt worden ist, wurde zwar in der Vorbemerkung zu n.349 erwähnt, aber nicht gedruckt. Die diplomatische Einkleidung findet sich in n.715.
Die Regesten sind meist sehr kurz, manchmal zu kurz (z.B. n.58: der Kremser Besitz fehlt), besonders dann, wenn interessante mehrphasige Rechtshandlungen aufgezeichnet sind, wie z.B. n. 349. Durch die durchgängige Übersetzung von tradere mit "geben", fallweise "übergeben" wird die mitunter schwierige Festlegung vermieden, in welcher Eigenschaft der Gebende handelt: tatsächliche Schenkung aus Eigenbesitz (stets für einen bestimmten Zweck, worüber in der Einleitung wenig zu lesen ist) oder als Delegation in welcher Eigenschaft auch immer. Während mit "Herr" für dominus die soziale Stellung eindeutig wiedergegeben ist, wird "Frau" sowohl für domina als auch für mulier verwendet, vgl. aber "Herrinnen" in der Einleitung Seite 45.
Ein riesiges Problem stellen die Datierungen der Notizen dar. Verschwindend wenige enthalten Jahresangaben; das meiste wird aufgrund der genannten Personen, mitunter auch von genannten Ereignissen erschlossen. Abgesehen von wenigen bekannten Persönlichkeiten, für die fixe Daten vorliegen, sind die Daten bedeutender adeliger Grundherren mit großen Unsicherheitsfaktoren behaftet; am ehesten lassen sich relative Abfolgen erschließen. Der Herausgeber hat sich im Wesentlichen an vorhandener Literatur orientiert und die Begründung seiner Entscheidungen sehr knapp gehalten.
Nach der Angabe von Editionen und Regesten sind die Vorbemerkungen auf Varianten, kodikologische Beobachtungen und ad-hoc-Bemerkungen beschränkt, Erläuterungen zum Inhalt sehr selten.
Auf ein Quellen- und Literaturverzeichnis (445-457) folgen ein Abkürzungsverzeichnis (460 f.) und schließlich umfangreiche Verzeichnisse der Orte und Personen "im Klosterneuburger Traditionsbuch". Die Namensformen und die Nummern wurden jeweils getrennt en bloc aufgelistet, man muss daher die Schreibung bei den einzelnen Texten nachschlagen. In das Ortsregister wurden auch die Eintragungen aus dem ältesten Urbar von 1258 aufgenommen. Beide Register enthalten zahlreiche Erläuterungen mit Querverweisen, mitunter genealogischen Exkursen und Literaturangaben. Im Ortsregister findet sich überdies das im Traditionsbuch nirgends genannte "Vornbach (Formbach)" (482), mit einem Zitat: "Ditricus comes 482". In n. 482 ist der Graf ohne Zusatz als erster Zeuge gleich nach Markgraf Otakar von Steier genannt. Sein Name findet sich in verschiedenen Funktionen in zahlreichen Traditionen. Das Personenverzeichnis enthält unter "Dietrich" alle Schreibvarianten en bloc (536), gefolgt von 43 Trägern dieses Namens, darunter "comes" mit dem Kursiv-Zusatz "von Formbach / Kreuzenstein u.a.m": nn. 13, 108, 111, 121, 183, 186, 482, 635. Alle diese Nummern sind auch im Ortsverzeichnis unter "Kreuzenstein" aufgelistet (475), obwohl dieser Ortsname nur in den nn. 186 und 378 genannt ist, in n. 186 "Theodericus comes de Kricanstene". In den anderen unter Kreuzenstein aufgenommenen Nummern findet sich Graf Dietrich ohne Ortszusatz.
Eine Liste wichtiger im Codex genannter Begriffe ist offenbar vorhanden (Einleitung Seite 45); sie hätte den Anhang bereichern können.
Die Neuedition ist auch in einer vorzüglichen Onlineversion mit parallelen Fotoaufnahmen des Originals nebst Übersetzung sowie Zusatzfunktionen benutzbar: https://fokus.stift-klosterneuburg.at/editionen/traditionscodex/#/. Auf eine editorischem Standard entsprechende Bearbeitung muss allerdings weiterhin gewartet werden.
Anmerkungen:
[1] Fontes rerum Austriacarum II 4.
[2] Vergleichbar ist etwa die Edition der Traditionen von Neustift bei Brixen, wohin durch die Person des Propstes / Bischof Hartmann eine Beziehung zu Klosterneuburg bestand, vgl. Max Schrott (Hg.): Liber testamentorum conventus Neocellensis, Bozen 1967. Die Beifügung der auf Anregung von Informatikerseite 1984 von der Rezensentin vorgeschlagenen Nummern in der vorliegenden Edition (sie sollten die erste Sammlung der Traditionen aus der Säkularkanonikerzeit behelfsmäßig numerisch von der wenig späteren Neuanlage unterscheiden) ist sinnlos, da keine Edition vorliegt. Auch hat die Rezensentin nachweislich von dieser Gestaltung Abstand genommen, was dem Herausgeber bekannt ist.
Karl Brunner (Hg.): Klosterneuburger Traditionsbuch. Registrum privilegiorum a prepositorum manu assignatorum (= Fontes rerum Austriacarum. III. Fontes Iuris; Bd. 28), Wien: Böhlau 2025, 602 S., 10 Frab-Abb., ISBN 978-3-205-22153-1, EUR 90,00
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