sehepunkte 25 (2025), Nr. 10

Carola Schormann: Heinrich Spitta

"Viele der maßgeblichen HJ-Musikerzieher stammten aus der Jugendmusikbewegung und brachten ihre Ideen in die Arbeit der HJ ein, so z. B. Heinrich Spitta." [1] Diese Aussage aus dem Standardwerk der Musikwissenschaftlerin Karin Stoverock über die Musik in der Hitlerjugend fasst den bisherigen Forschungsstand zum bislang wenig erforschten Komponisten Heinrich Spitta (1902-1972) präzise zusammen. Carola Schormann nuanciert dieses Bild nun, indem sie zeigt, dass Spittas Weg in die Hitlerjugend nicht primär über die Jugendmusikbewegung führte, sondern über die nationalistischen Strömungen in seinem theologisch geprägten Elternhaus und aus Opportunismus.

Über die bloße Biografie hinausgehend will die Autorin zeigen, dass "das Wissen um Biografie zum Wissen um Musik, um deren Beschaffenheit, Herkunft und Funktion beitragen kann" (19). Die Musikwissenschaftlerin und Historikerin an der Leuphana Universität Lüneburg versteht Musik dabei als Ausdruck sozialer und politischer Praxis. Spittas Leben verdeutliche exemplarisch, wie eng Musik, Ideologie und Karrieren verflochten waren und wie sich nationalsozialistische Einstellungen auch nach 1945 fortsetzten. Somit macht sie Kontinuitätslinien zwischen der Jugendmusikbewegung, der evangelischen Kirche, der Hitlerjugend und dem Wirken des Nationalsozialismus nach 1945 sichtbar.

Das Buch ist recht kleinteilig in einundzwanzig Kapitel gegliedert, die chronologisch Spittas Werdegang nachzeichnen. Zunächst geht es um dessen Herkunft und Sozialisation im Kaiserreich sowie um sein Musikstudium und seinen Weg in die Jugendbewegung. Es folgt eine Auseinandersetzung mit seiner Tätigkeit als Komponist im Nationalsozialismus und schließlich mit seiner Nachkriegskarriere in der Bundesrepublik. Dabei geht es nicht um detaillierte Werkanalyse, sondern um die Rekonstruktion der jeweiligen historischen Kontexte.

Spittas christlich-bürgerliche Sozialisation sowie die Flucht aus dem Elsass nach 1918 vermittelten ihm "das Gefühl der Grenze" und das eines "schwachen" Reiches (27). Mangels Begabung für ein Kompositionsstudium wandte er sich der Musikwissenschaft zu; Spitta wurde 1923 mit einer Arbeit über den frühbarocken deutschen Komponisten Heinrich Schütz (1585-1672) promoviert. Die in der Jugendmusikbewegung verbreitete Idee einer "Kluft zwischen der im Konzertleben offerierten Musik und der breiten Bevölkerung" (57) passte zwar nicht zu Spittas musikalischer Sozialisation, allerdings sah er hier eine Möglichkeit, als Komponist tätig zu werden, und identifizierte sich mit anderen Aspekten dieser Bewegung wie der Fokussierung auf frühbarocke Musik oder der Entwicklung einer "Volksgemeinschaft", wie sie angeblich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit funktioniert habe. So kam er als "Quereinsteiger" (50) zur Jugendmusikbewegung und begann 1929 mit der Komposition von entsprechenden Volksliedsätzen. Schormann betont dabei, dass die Ideen dieser Bewegung, beispielsweise ihres bekannten Vertreters Fritz Jöde in der Hitlerjugend umgekehrt wurden: "Musik soll[te] nicht aus der Gemeinschaft wachsen, sondern soll[te] die Gemeinschaft erst schaffen und vertiefen" (61). Heinrich Spitta verstand dies schnell und schrieb zahlreiche Lieder und Liedkantaten, die trotz ihrer umstrittenen musikalischen Qualität großen Erfolg bei den Nationalsozialisten hatten.

Wenn er sich vor 1933 noch mit Kunstmusik beschäftigt hatte, so orientierte er sich ab 1933 schnell neu: Es gelang ihm der "Durchbruch als Komponist, wenn dieser auch begrenzt ist auf ideologisch geprägte Lieder und Kantaten" (79). Weder die Suspendierung Fritz Jödes vom Musikheim Finkenkrug im Februar 1935 und die Übergabe des Geländes an die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei noch die so genannte Arisierung des Verlags Edition Peters 1938, der seine HJ-Kompositionen veröffentlichte, oder die kritischen Bemerkungen seiner Ehefrau Ruth veranlassten Heinrich Spitta, sein Engagement für das NS-Regime infrage zu stellen. Parallel dazu veranschaulicht das Kapitel "Achteljude" (145) die inneren Widersprüche im NS-System: Spitta durfte trotz seiner nach NS-Kriterien jüdischen Teilabstammung auf dem Gnadenweg weiterhin im Kulturamt der Reichsjugendführung arbeiten.

Nach 1945 war Spittas Handeln weiterhin von Kontinuitäten geprägt. Während seiner Gefangenschaft im Offizierslager Tscherepowez traf er Bekannte wie den aus der Jugendmusikbewegung stammenden NS-Musikfunktionär Wolfgang Stumme oder den Kirchenmusiker Ekkerhard Tietze. Dort komponierte er weiter und organisierte Konzerte sowie Lehrgänge für Sing- und Chorleitung wie zuvor in der HJ. Nach seiner Entlassung im März 1949 wurde Spitta von seinem HJ-Netzwerk unterstützt, zuerst um durch sogenannte Persilscheine in der Kategorie V als "entlastet" (245) eingestuft zu werden; dann nutzten sie seiner Karriere: Spitta wurde nebenberuflich Dozent an der Pädagogischen Hochschule Lüneburg und erhielt dort 1960 eine Professur für Musikerziehung.

Eindeutig zeigt Carola Schormann das "Scheitern der Idee einer Entnazifizierung" (243). Spitta leugnete seine Verantwortung nicht nur, sondern deutete das eigene Handeln "fast mythologisierend positiv" um: Es sei ihm nur, und das "vollkommen unpolitisch, um die vermeintlich gute Musik gegangen" (243). Sein Handeln stellte Spitta nie in Frage. Bemerkenswert ist, dass seine Musik an der Universität Lüneburg noch lange Zeit unkritisch gespielt wurde.

An Carola Schormanns Studie ist besonders der reiche Quellenfundus hervorzuheben: Briefe, Zeitzeugenberichte und Archivmaterialien ergeben ein facettenreiches Bild. Dieser Fundus erlaubt nicht nur eine Rekonstruktion von Spittas Netzwerken, sondern auch eine Analyse seiner beruflichen Strategien. Auch wenn eine Institutionengeschichte hier "weniger von Interesse ist" (10), ermöglicht die Rekonstruktion der Netzwerke neue Erkenntnisse über musikalische Einrichtungen wie das HJ-Seminar in der Berliner Hochschule für Musikerziehung und Kirchenmusik.

Kritisch wäre anzumerken, dass Spittas musikalisches Handeln manchmal "lediglich geschildert [wird], ohne ausgelegt zu werden" (10): Zwei Kapitel beschränken sich darauf, Zeitzeugenberichte (Kapitel 12) oder Zeitungsartikel (Kapitel 21) unkommentiert zu zitieren. Dazu werden musikanalytische Aspekte eher knapp behandelt und sind auf die verschiedenen Kapitel verteilt, was zwar dem Erkenntnisinteresse des Buches geschuldet ist, aber den Wert für die musikwissenschaftliche Forschung mindert. Problematisch ist es, wenn am Anfang eines neuen Kapitels (wie im Kapitel 17) Daten unvollständig oder gar ohne Jahreszahl angegeben werden. Zwar lassen sich die fehlenden Angaben durch Rückgriff auf vorherige Seiten erschließen, doch erschwert dies die Lektüre. Hinzu kommt, dass wichtige Fakten gelegentlich ohne Fußnote bleiben, beispielsweise wenn "das erste Heft der Reihe 'Junge Gefolgschaft'" als Ergebnis der kulturpolitischen Lager der Reichsjugendführung dargestellt wird (105).

Trotz dieser geringfügigen Kritikpunkte leistet die exemplarische Studie einen wichtigen Beitrag zur Erforschung eines der wichtigsten HJ-Komponisten neben dem ungleich bekannteren Hans Baumann. Schormann gelingt es, Spittas Leben zwischen theologischer Familienprägung, musikpädagogischen Netzwerken und Nationalsozialismus zu rekonstruieren und zugleich nachzuweisen, wie über den biographischen Fall hinausgehend nach 1945 alte Netzwerke, Verdrängung, aber auch der "musikpädagogischen Ideen des Nationalsozialismus" fortwirkten (247).


Anmerkung:

[1] Karin Stoverock: Musik in der Hitlerjugend. Organisation, Entwicklung, Kontexte, 2 Bände. Bd. 1, Uelvesbüll 2013, 37.

Rezension über:

Carola Schormann: Heinrich Spitta. Eine Musikerkarriere im 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2025, 401 S., 108 Abb., ISBN 978-3-205-22250-7, EUR 50,00

Rezension von:
Julien Corbel
Université Sorbonne Nouvelle
Empfohlene Zitierweise:
Julien Corbel: Rezension von: Carola Schormann: Heinrich Spitta. Eine Musikerkarriere im 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/10/40461.html


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