Der Titel des vorliegenden Buches ist als Frage formuliert, und die Antwort lautet: Ja. Es entspricht dem Charakter eines Sammelbandes, dass diese Antwort nicht unmissverständlich gegeben wird, sondern sich aus dem Gesamtbild der Beiträge ableiten lässt. Der Zuspitzung des Titels steht im Klappentext die differenzierte Frage gegenüber, was die Bonner Republik gewesen und was von ihr geblieben sei. Die Antwort darauf fällt länger aus, ist aber nicht zu übersehen: Die Bonner Republik war eine erfolgreiche liberale, föderal gegliederte Demokratie, deren Lebensgesetze wesentlich durch die Bedingungen des internationalen Systems, die Last der jüngsten deutschen Geschichte, die Westbindung, die europäische Integration und das transatlantische Verhältnis bestimmt waren. Geblieben ist davon vieles, was noch immer die Stabilität der deutschen Demokratie garantiert und ihre Rolle in der Welt definiert. Ohne die Bonner Republik und die Leistungen der Generationen, die sie aufbauten, ist das heutige Deutschland nicht denkbar. Die sogenannte Berliner Republik ist in der Tat eine "Art Bundesrepublik 2.0" (16), wie die Herausgeber in der Einleitung mit Verweis auf einen Aufsatz von Claudia Gatzka schreiben. [1]
Eine "Bonner Republik 2.0" ist das heutige Deutschland dagegen kaum, denn dafür haben sich die inneren und äußeren Bedingungen der Republik zu sehr verändert, wie man ebenfalls in der Einleitung lesen kann (16 f.). Was sich geändert hat und vor welchem Hintergrund, führt dieser Band, der auf zwei Tagungen der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf beruht, auf eindringliche Weise und in großem Umfang vor Augen. Im Vergleich zu bisherigen Arbeiten zur alten Bundesrepublik oder zur Transformationszeit der 1990er Jahre zeichnet sich das vorliegende Buch durch einen Facettenreichtum aus, den nur ein gut komponierter Sammelband bieten kann. Vier Felder nimmt er in 21 Einzelbeiträgen in den Blick, nämlich die Diskussion und die Entscheidung in der Hauptstadtfrage, die Übergänge von Bonn nach Berlin, die Hauptstadtbilder und die Diskurse über Bonn und Berlin.
Vor allem das letzte Themenfeld ist eine Bereicherung des Forschungsstands, weil es Einblicke in die Verständigung über Fragen von Geschichte und nationaler Identität gibt, die beim Übergang von Bonn nach Berlin, auch bei dem Versuch der Herstellung der inneren Einheit eine größere Rolle spielten, als damals wie heute oft anerkannt wird. So zeigt Martina Steber, wie Intellektuelle mit dem Spannungsfeld zwischen der Verwestlichung der Bundesrepublik und der Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats umgingen und stellt vor dem Hintergrund des zusammengetragenen Materials überzeugend fest, der "Westen" sei "omnipräsent in der Bonn-Berlin-Debatte der Jahre 1990 und 1991" gewesen (435). Letztlich ging es dabei darum, ob und wie die ideelle und politische Westbindung mit der Deutschen Einheit zu vereinbaren sein würde. Als Beispiel sei hier auf Hans-Peter Schwarz verwiesen, der das vereinigte Deutschland zur "Zentralmacht Europas" erklärte. Schwarz, so Steber, habe das neue Deutschland als Fortsetzung des 1871 gegründeten Nationalstaats gesehen und damit die "Zäsur von 1945" relativiert, gleichzeitig aber festgestellt, dass dieser Staat nur innerhalb der westlichen Gemeinschaft und fest in westlichen Werten verankert bestehen könne (444).
Diese gedankliche Konstruktion zeigt, wie ein in der alten Bundesrepublik sozialisierter Liberalkonservativer versuchte, Bonn mit Berlin, die Grundlagen der alten Bundesrepublik mit den neuen Gegebenheiten in Übereinstimmung zu bringen. Interessant ist dabei, dass für andere Intellektuelle aus demselben politischen Lager, wie Michael Stürmer und Christian Graf von Krockow, die Erinnerung an Preußen und seine Tugenden das Mittel sein sollte, diese Übereinstimmung herzustellen - eine Absicht, die von Bundespräsident Richard von Weizsäcker geteilt wurde. Solche Identitätsdebatten scheinen nicht nur in diesem Beitrag auf, sondern auch - auf einer ganz anderen Ebene - in den Beiträgen über die Debatten der Parteien und Bundestagsfraktionen über die Hauptstadtfrage.
Alles in allem wird in diesem Sammelband deutlich, dass der westdeutsche Teilstaat mit größerem Recht als Bonner Republik bezeichnet werden kann als das Deutschland nach 1990 als Berliner Republik. Denn der Wesenskern der alten Bundesrepublik war das Provisorische, das sich nicht zuletzt in der provisorischen Hauptstadt symbolisch verdichtete. Die größere Bundesrepublik, die 1990 entstand, hat dagegen immer noch dieselben verfassungsmäßigen Grundlagen wie die Bonner Republik. Und sie ist nicht in erster Linie dadurch definiert, dass die Hauptstadt Berlin ist. Vielmehr war die Entscheidung für Berlin im Grunde unvermeidlich, wenn auch für viele nicht erkennbare Konsequenz der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, das heißt der Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats in verkleinerter Form. Das meinte Richard von Weizsäcker, als er lange nach dem Hauptstadtbeschluss, im Jahr 2005, sagte: "Wir leben nicht in einer Berliner Republik, sondern im vereinigten Deutschland mit Berlin als wahrer Hauptstadt." [2]
Auch deshalb hat das heutige Deutschland zwar in bei weitem nicht Allem, aber doch in Vielem Ähnlichkeit mit dem Deutschland der Zeit vor 1933, obwohl es auf den Grundlagen der alten Bundesrepublik beruht. Gerade die Rückkehr solcher Kontinuitäten aber haben Bonn-Befürworter wie Norbert Blüm gefürchtet, wie dieser informative Sammelband zeigt. Heute kann man ihnen entgegenhalten, dass eine Entscheidung für Bonn sicher kein Beitrag zur Lösung der sich bald entwickelnden Probleme bei der Herstellung der inneren Einheit gewesen wäre. Gleich zu Beginn ihres Beitrags über die "ostdeutschen Abgeordneten im Deutschen Bundestag" macht Bettina Tüffers die Herausforderung der Integration der Ostdeutschen in die Bundesrepublik mit einem Bonmot Joachim Gaucks deutlich: "Wir träumten vom Paradies und wachten auf in Nordrhein-Westfalen." (69) Wie böse wäre das Erwachen erst gewesen, wenn die Hauptstadt des vereinigten Deutschlands auf Dauer im Westen gelegen hätte?
Anmerkungen:
[1] Claudia Ch. Gatzka: Berlin ist nicht Bonn ist nicht Weimar. Die deutschen Republiken im politischen Deutungskampf, in: Jürgen Zimmerer (Hg.): Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein, Ditzingen 2023, 414-432, hier 416.
[2] Richard von Weizsäcker (im Gespräch mit Jan Roß): Was für eine Welt wollen wir?, Berlin 2005, 47.
Gertrude Cepl-Kaufmann / Dominik Geppert / Jasmin Grande u.a. (Hgg.): Ende der Bonner Republik? Der Berlin-Beschluss 1919 und sein Kontext (= Parlament und Öffentlichkeit 10; Bd. 189), Düsseldorf: Droste 2024, 563 S., zahlr. Farb-Abb., ISBN 978-3-7700-5361-2, EUR 49,90
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