Lange Zeit war das Mittelalter das Lieblingskind der Hanseforschung. Aktuell tritt jedoch besonders in Forschungen von Nachwuchswissenschaftler*innen die frühneuzeitliche Hanse aus dem Schatten der mittelalterlichen hervor. Teil dieses Wandels ist die an der Universität Kiel entstandene, überarbeitete und erweiterte Masterarbeit von Stefan Brenner. Ihr Gegenstand, Dithmarschen, war nicht nur im Untersuchungszeitraum von 1500 bis 1559 eine "quasiautonome aristokratisch-föderative Republik" (13), deren Großbauern - weitestgehend emanzipiert vom Bremer Erzbischof, obschon dem Erzstift Bremen zugehörig - sich im Gremium des 48er-Rats selbstverwalteten. Für die Wahrung dieses Status war die Unterhaltung von 'Außenbeziehungen' erforderlich, denen sich der Verfasser in sieben chronologisch angelegten Kapiteln widmet.
Kapitel 1 führt in die Grundlagen der Untersuchung ein. Deren Ziel ist es herauszufinden, "wie und unter welchen Prämissen eine politische Zusammenarbeit zwischen Dithmarschen und den [...] regionalen Hansestädten zustande kam" (16), welche Erscheinungsformen und welche Folgen sie hatte. Hierfür verquickt Brenner politische Hanse- mit Regionalgeschichte, um einen "auf den Untersuchungsgegenstand zugeschnittenen Raum zu definieren" und "thematisch-inhaltliche Schwerpunkte in eben diesem zu setzen" (18). Eine "auf die Region und die dortigen Akteure zentrierte Arbeitsweise" (18) soll eine Analyse des zwischen ihnen bestehenden Beziehungsgeflechts ermöglichen. Wirtschaftliche Beziehungen blendet Brenner explizit aus, "sofern sie die politische Ebene nicht unmittelbar tangieren" (20).
Die fünf folgenden Kapitel schildern die wechselhaften Beziehungen zwischen Dithmarschen auf der einen, Lübeck, den Herzögen von Schleswig und Holstein, den dänischen Königen, untergeordnet Hamburg und Lüneburg, schwedischen Akteuren und solchen des Reichs auf der anderen Seite. Nach dem Sieg über ein königlich-dänisches Heer bei Hemmingstedt bauten die Dithmarscher ihre Beziehungen zu Lübeck aus und verstetigten sie im Laufe des 16. Jahrhunderts. Ihr Ziel war es wohl, sich mit einem starken Partner gegen drohende Übernahmeversuche der holsteinischen Herzöge abzusichern. Da Letztere in Personalunion dänische Könige waren oder mit ihnen verwandt, überschnitten sich die dithmarsischen Interessen mit denen Lübecks, dessen diplomatische Beziehungen zu Dänemark oftmals angespannt waren. Zudem fungierte Lübeck als Türöffner zur Hanse und ermöglichte die Partizipation an hansischen Informationsnetzwerken und Tagfahrten.
Kapitel 3 fasst die verschiedenen Herausforderungen zusammen, mit denen die Hanse und Lübeck um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert konfrontiert waren (landesherrliche Interessen, Pest und dadurch Schwächung des Handels, "dänisch-lübische[r] Antagonismus" (79)). In Kapitel 4 schildert Brenner die Intensivierung des Bündnisses zwischen Dithmarschen und Lübeck im Zeitraum 1508-1521. In einer komplexen Gemengelage beteiligten sich beide Partner unter anderem aktiv an der Absetzung König Christians II. von Dänemark durch seinen Onkel sowie Herzog von Schleswig und Holstein, Friedrich I. Während sich andere wendische Städte zurückhielten, übernahm Lübeck in der Hanse zunehmend die Rolle eines Sprachrohrs Dithmarschens, das jedoch seinen Handel unbeeindruckt von seinen Partnern weiterhin auf die Niederlande fokussierte.
Als "Höhepunkt der dithmarsisch-lübischen Beziehungen" (129) gilt laut Brenner die Grafenfehde. Der in Kapitel 5 geschilderte Versuch Lübecks, Dithmarschens und anderer Verbündeter, Kontrolle über den Sund zu erlangen und einen willfährigen dänischen König einzusetzen, scheiterte krachend. Infolgedessen hatte das dänische Königtum erstmals seit langem wieder realistische Aussichten auf eine Einverleibung Dithmarschens in seine Herrschaft. Das lübeckisch-dithmarsische Verhältnis hingegen gestaltete sich ambivalent, wie Kapitel 6 darlegt. Einerseits wurde eine Mitgliedschaft Dithmarschens in der Hanse diskutiert, andererseits konnte das geschwächte Lübeck dithmarsische Interessen nicht mehr durchsetzen und verlor an Bedeutung für seinen Partner. So war der Weg frei für die Eroberung des politisch weitestgehend isolierten Dithmarschen durch Herzog Adolf I. und das Ende der 'Quasi-Autonomie'.
Die gut lesbare Darstellung bietet gewinnbringende Einblicke in die politisch-diplomatische Welt des spätmittelalterlichen/frühneuzeitlichen Nordeuropa. Ihre große Stärke liegt in der gründlichen Erörterung der teils divergierenden, sich teils überlappenden Interessen der behandelten Akteure und der sich daraus ergebenden Folgen. Zahlreiche Zusammenfassungen, ein Personen- und ein Ortsregister erleichtern die Zugänglichkeit des Bandes zusätzlich. Positiv hervorzuheben ist außerdem die breite Quellengrundlage, die neben den üblichen diplomatiegeschichtlichen Quellen auch die Chronistik umfasst. Besonders reizvoll sind nach Meinung des Rezensenten die Ausführungen zur konkreten Ausformung der Zusammenarbeit Dithmarschens und Lübecks. Bis ins 20. Jahrhundert wurde die Hanse als Organisation verstanden, die mitunter auch klassenkampfartig bürgerliche Standesinteressen durchsetzte. Die enge dithmarsisch-lübeckische Kooperation hingegen vermag die geringe Bedeutung von Standesgrenzen für die Verfolgung eigener Interessen aufzuzeigen.
Akteure sind für Brenner vor allem Herrscher und politische Entitäten wie Städte. Letztere besaßen jedoch per se keine eigenen Interessen, sondern wurden vom Willen der jeweils maßgeblichen Personen gelenkt. Da Brenner zumindest gelegentlich persönliche Interessen und Gegensätze innerhalb dieser Entitäten behandelt, ist es zu verschmerzen, dass er die in den letzten Jahrzehnten gewonnenen Erkenntnisse zur personalen Komponente politischer Beziehungen [1] nicht explizit berücksichtigt. Von Nachteil für den Erkenntnisgewinn ist jedoch das Ausblenden der wirtschaftlichen Beziehungen. Wie Forschungen Bjørn Poulsens, Poul Enemarks und auch des Rezensenten [2] zeigen, waren die Gesellschaften der wendischen Städte im Spätmittelalter und an der Wende zur Frühen Neuzeit nicht nur wirtschaftlich, sondern insgesamt eng mit denen Dänemarks verwoben. Daher hat die dem Band zugrunde liegende Auffassung von einem "hansisch-dänische[n] Gegensatz" (z.B. 137) als Relikt der politikgeschichtlichen Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als überholt zu gelten. Konflikte entstanden vor allem dann, wenn eine Seite von etablierten Verfahrensweisen im alltäglichen Umgang miteinander abwich. Insofern lässt sich die Bedrohung der dithmarsischen Unabhängigkeit durch die Herzöge von Holstein nicht mit einer 'dänischen Gefahr' parallelisieren.
Dieser eine Kritikpunkt mindert jedoch in keiner Weise die vielen Vorzüge des Bandes. Brenner hat eine Untersuchung vorgelegt, die die verschiedenen Interessenslagen sorgfältig und intensiv beleuchtet. Sie ist nicht nur für die Geschichte Dithmarschens, sondern allgemein für die des südlichen Nordeuropas mit großem Gewinn zu lesen und liefert einen kompakten Überblick wie auch zahlreiche Anstöße für die weitere Beschäftigung mit der Region.
Anmerkungen:
[1] S. z.B. Hillard von Thiessen / Christian Windler (Hgg.): Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel (Externa; 1), Köln / Weimar / Wien 2010.
[2] Kilian Baur: Freunde und Feinde: Niederdeutsche, Dänen und die Hanse im Spätmittelalter (1376-1513) (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte NF; 76), Wien / Köln / Weimar 2018; Poul Enemark: Lybæk og Danmark: skæbnemodstandere eller handelspartnere?, in: Kongemagt og samfund i middelalderen: festskrift til Erik Ulsig på 60-årsdagen, 13.2.1988, ed. by Poul Enemark / Per Ingesman / Jens Villiam Jensen (Arusia; 6), århus 1988, 161-189; Bjørn Poulsen: Late Medieval Migration across the Baltic: The Movement of People between Northern Germany and Denmark, in: Guilds, towns, and cultural transmission in the north: 1300 - 1500, ed. by Lars Bisgaard / Lars Boje Mortensen / Thomas Pettitt, Odense 2013, 31-56.
Stefan Brenner: Im Fahrwasser regionaler Hansestädte. Dithmarschen in den Konfliktfeldern des westlichen Ostseeraums (1500-1559) (= Kieler Werkstücke. Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte; Bd. 60), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2022, 273 S., ISBN 978-3-631-86271-1, EUR 54,00
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