sehepunkte 25 (2025), Nr. 12

Tatjana Tönsmeyer: Unter deutscher Besatzung

Am 22. Februar 1943, wenige Wochen nach dem Ende der Schlacht von Stalingrad, schrieb der französische Lehrer und Publizist Jean Guéhenno in seinem Tagebuch über seine Gedanken beim Anblick eines deutschen Besatzungssoldaten: "Er und ich sind wahrscheinlich ungefähr gleich alt, und ich denke an unsere gemeinsame Geschichte - verlorene Europäer, die seit nunmehr vierzig Jahren sich vergeblich bemühen, die Anforderungen unserer Ehre und unseres Hungers zu versöhnen. Es scheint, als ob der Hunger von manchen nur auf Kosten der Gefräßigkeit von anderen befriedigt werden kann, dass die Ehre von einigen nur um den Preis der Erniedrigung von anderen zu erreichen sei. Das ist nicht wahr. Aber wirklich, alter Mann, geh nach Hause, geh einfach nach Hause." (142)

Es handelt sich um eines jener Quellenzitate, die das vorliegende Buch so lesenswert machen. Sie geben persönliche, oft überraschende Einblicke in die alltäglichen Erlebnisse und das Seelenleben derjenigen, die sich zwischen 1939 und 1945 an ganz verschiedenen Orten in Europa mit der deutschen Besatzungsherrschaft und ihren Folgen konfrontiert sahen. Auf gut 600 Textseiten zieht die Wuppertaler Zeithistorikerin Tatjana Tönsmeyer, eine der profiliertesten Kennerinnen der Materie, die Bilanz ihrer langjährigen Forschungs- und Quellenarbeit. Das Ergebnis ist eine eindrucksvolle Gesamtschau, die das Leben und Sterben im besetzten Europa ebenso einfühlsam wie scharfsinnig nachzeichnet.

Innovativ ist zunächst der alltagsgeschichtliche Zugang. Aufbauend auf einem internationalen Editionsprojekt zum Alltag in Europa unter deutscher Besatzung [1] begreift Tönsmeyer das "Besetzt-(gewesen-)Sein als zentrale Kriegserfahrung" (13). Sie widmet sich den "Erfahrungen, Wahrnehmungen und Selbstdeutungen" der Besetzten (15), blickt auf Handlungsspielräume und "emotional communities" (18). Anders als etwa Mark Mazower [2] richtet Tönsmeyer den Fokus also nicht auf den Besatzungsapparat, die institutionellen Strukturen und die deutschen Täter, sondern auf diejenigen, die deutsche Besatzung im Alltag erfuhren, erlebten und erlitten. Der Erzählstil des Buchs, das immer wieder auf konkrete Einzelschicksale zurückkommt, erinnert wohl nicht zufällig an Nicholas Stargardts Alltagsgeschichte des Zweiten Weltkriegs. [3] Nur rekonstruiert Tönsmeyer statt der deutschen Perspektive die der Menschen in den besetzten Ländern Europas.

Wegweisend ist außerdem der konsequent europäische Zugang, der bewusst quer zu den nationalen Meistererzählungen von Widerstand und Kollaboration liegt. Er verarbeitet eine Vielzahl an jüngeren Forschungen zu einzelnen Ländern und Aspekten, eröffnet wichtige Vergleichsperspektiven und verweist auf Ähnlichkeiten, aber auch auf grundlegende Differenzen. Immer wieder macht Tönsmeyer klar, dass der Besatzungsalltag in West- und Nordeuropa ähnliche Rahmenbedingungen, Muster und Dynamiken kannte wie in Ost- und Südeuropa, wo die Radikalität, Gewaltbereitschaft und Willkür der deutschen Besatzer freilich ungleich größer war. Gemeinsamkeiten und fundamentale Unterschiede arbeitet das Buch auch durch die wiederkehrende Gegenüberstellung jüdischer und nichtjüdischer Schicksale heraus. Der Preis für den gesamteuropäischen und vergleichenden Anspruch ist eine gewisse Sprunghaftigkeit der Erzählung zwischen einer Vielzahl von Orten, Situationen und Einzelschicksalen.

Das Buch ist folglich nicht geografisch nach einzelnen Ländern und Regionen, sondern chronologisch-thematisch gegliedert. Das erste von zehn Kapiteln blickt auf den Beginn des Krieges und die Ankunft der deutschen Besatzer. In den nachfolgenden Kapiteln arbeitet Tönsmeyer zentrale Konstellationen, Aspekte und Mechanismen des Besatzungsalltags heraus. Sie analysiert die Zusammensetzung der Besatzungsgesellschaften und die Interaktion zwischen Besatzern und Besetzten. Sie thematisiert die von Mangel geprägte Versorgungslage, die oft katastrophale Wohnsituation, den Arbeitsmarkt und die Zwangsarbeit sowie die alltägliche Entmündigung durch Bürokratie, Machtmissbrauch und Willkür. Die letzten drei Kapitel widmen sich unterschiedlichen Ausprägungen und Dynamiken der In- und Exklusion: dem "Dazugehören-Wollen", dem "Ausgeschlossen-Werden" und dem "Nein-Sagen".

Tönsmeyer gelingt es, die Komplexität und Vielschichtigkeit der sozialen Gefüge im besetzten Europa herauszuarbeiten. Zusammenfassende Fazits am Ende der einzelnen Kapitel helfen, den Überblick zu behalten. Sie resümieren zentrale Befunde und koppeln sie an übergreifende Forschungsfragen zurück. Einige dieser prägnant formulierten Befunde leuchten auf Anhieb ein - etwa wenn Tönsmeyer die deutsche Besatzung als eine "Herrschaft des Verdachts" (356) charakterisiert oder darauf hinweist, dass "[d]as deutsche Angebot des Dazugehörens [...] vor allem ein Angebot zur Partizipation an Verbrechen" gewesen sei (402). Hingegen dürften andere Zuspitzungen wie der leider nicht weiter ausdifferenzierte Hinweis auf die "koloniale Neuordnung des östlichen Europa" (309) oder der dezidiert distanzierte Umgang mit Begrifflichkeiten wie Kollaboration und Widerstand bei einigen Leserinnen und Lesern durchaus Widerspruch erregen.

Kritisch anmerken ließe sich, dass die Bedeutung früherer Besatzungserfahrungen nur angedeutet und nicht systematisch in die Analyse einbezogen wird. Gleiches gilt für die Frage nach den langfristigen materiellen Konsequenzen, der juristischen Aufarbeitung und den erinnerungsgeschichtlichen Nachwirkungen der deutschen Besatzungsherrschaft. So wäre über die Anspielungen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hinaus sicher auch ein vergleichender Ausblick auf die alliierte Besatzung in Deutschland und andere Besatzungsregime nach 1945 anregend gewesen - zumal es hier neben Vergleichsmöglichkeiten auch handfeste Lernprozesse gab. Globalhistorisch interessierte Leserinnen und Leser werden sich außerdem fragen, warum die deutsche Besatzung in Nordafrika nicht thematisiert wird und keine Vergleiche zum Alltag unter italienischer und japanischer Okkupation gezogen werden. Auch mag es verwundern, dass Tönsmeyer die Europapläne der Nationalsozialisten und ihrer europäischen Verbündeten nur knapp abhandelt, obwohl dazu in den letzten zehn Jahren intensiv geforscht wurde. [4]

Freilich handelt es sich hierbei vor allem um weiterführende Perspektiven, die den Rahmen des Buches vermutlich gesprengt und den Horizont der ausgewerteten Quellengrundlage deutlich überschritten hätten. Tatjana Tönsmeyer hat zweifellos eine wichtige und äußerst lesenswerte Darstellung zur Alltagsgeschichte der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg vorgelegt, die eine erste umfassende Bilanz dieses "europäische[n], dark heritage" (27) zieht und zahlreiche neue Perspektiven für künftige Forschungen eröffnet.


Anmerkungen:

[1] Tatjana Tönsmeyer / Peter Haslinger / Borodziej Włodzimierz / Stefan Martens / Irina Sherbakova (eds.): Fighting Hunger. Dealing with Shortage. Everyday Life under German Occupation: A Source Edition, 2 vol., Leiden / Boston 2021.

[2] Mark Mazower: Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, München 2009.

[3] Nicholas Stargardt: Der deutsche Krieg 1939-1945, Frankfurt am Main 2015.

[4] Vgl. Johannes Dafinger / Dieter Pohl (eds.): A New Nationalist Europe under Hitler. Concepts of Europe and Transnational Networks in the National Socialist Sphere of Influence, 1933-1945, London / New York 2018; Georges-Henri Soutou: Europa! Les projets européens de l'Allemagne nazie et de l'Italie fasciste, Paris 2021.

Rezension über:

Tatjana Tönsmeyer: Unter deutscher Besatzung. Europa 1939-1945, München: C.H.Beck 2024, 652 S., 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-81735-9, EUR 38,00

Rezension von:
Johannes Großmann
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Großmann: Rezension von: Tatjana Tönsmeyer: Unter deutscher Besatzung. Europa 1939-1945, München: C.H.Beck 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 12 [15.12.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/12/40132.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.