sehepunkte 25 (2025), Nr. 12

Georgios Varouxakis: The West

Dass dem "Westen" im heutigen Sprachgebrauch überhaupt eine Geschichte zugeschrieben wird, versteht sich nicht von selbst. Aus der Sicht seiner Gegner, vor allem in Russland, China und Teilen des Globalen Südens, erscheint der Westen als ein überzeitliches, metaphysisches Übel, dessen Untaten keiner genaueren Darstellung bedürfen und von dessen Allgewalt man sich befreien muss. Für seine Anhänger wiederum ist der Westen maximal ein Kanon universal und absolut geltender Werte, minimal eine transatlantische Sicherheitsordnung mit Artikel fünf des NATO-Vertrages als Dreh- und Angelpunkt. Wenn man es dennoch unternimmt, eine Geschichte des Westens zu schreiben, noch dazu eine langfristige, dann bieten sich grundsätzlich drei Möglichkeiten. Erstens hat Heinrich August Winkler eine monumentale Identitätsgeschichte der politischen Gemeinschaft (weniger der "Zivilisation") des Westens geschrieben. [1] Diese Option hat bei Winkler ihre höchste Erfüllung erreicht, niemand wird ihn je quantitativ und vielleicht auch qualitativ überbieten. Zweitens gibt es kritische Gegengeschichten, die entweder den "Mythos" des Westens ideologiekritisch entlarven oder einen real existierenden Westen als gewaltreichen Irrweg der Weltgeschichte anprangern. [2] Drittens kann man sich dem Thema begriffsgeschichtlich nähern und fragen, wer wann und unter welchen Umständen von "dem Westen" in einem anderen als geographischen Sinne gesprochen hat. Dazu gibt es manche Vorstudien [3], doch erst Georgios Varouxakis hat sich an eine Zwischenbilanz gewagt.

Der Umfang des Themas verlangte Begrenzung. Varouxakis, der an der Queen Mary University in London politische Ideengeschichte lehrt und bisher als Spezialist für John Stuart Mill bekannt war, verwendet Quellen in französischer, englischer, deutscher und griechischer Sprache. Er hat diese Quellen in Philosophie, Geschichtsschreibung, Sozialwissenschaft und Publizistik aufgespürt, in wenigen Fällen auch in der fiktionalen Literatur. Die Semantik von Okzident/Orient vor dem 19. Jahrhundert bleibt sachverständig skizzierte Vorgeschichte. Die asiatische oder afrikanische Außensicht auf den Westen konnte nicht berücksichtigt werden; nur Rabindranath Tagore wird knapp vorgestellt, vor allem sein Einfluss auf innerwestliche Diskussionen. Ebenso fehlt aus guten Gründen umgekehrt der große Komplex der "orientalistischen" Abgrenzung Europas und Nordamerikas von anderen Kulturen. Weniger verständlich ist, dass Hispano- und Lusoamerika - "der andere Westen" [4] - nur im engen Zusammenhang von Visionen der Solidarität "lateinischer Nationen" auftaucht.

Von allen Differenzkonstruktionen, in denen der Westen historisch sein Selbstbild profilierte, hält Varouxakis den Gegensatz zu Russland für die wichtigste: eine schwer bestreitbare These, die dem Buch, durch das sich die westliche Russlandwahrnehmung als roter Faden zieht, eine erhebliche Aktualität verleiht. Der Westen entstand als semantische Figur in dem Moment, als Russland, das 1814/15 militärisch und diplomatisch so weit nach Westeuropa vorgedrungen war wie nie zuvor, erneut ausgegrenzt wurde. Daran war das Zarenreich nicht unschuldig. Mit der brutalen Niederschlagung des polnischen Aufstandes von 1830/31 begann eine Entfremdung, die im Grunde bis heute andauert.

In zweiten von neun chronologischen Kapiteln zeigt Varouxakis, dass das Konzept des Westens nicht erst - wie in der Literatur zumeist behauptet - um 1890 als imperialistischer Kampfbegriff entstand, sondern bereits ab 1842 bei Auguste Comte und seinen Mitstreitern als Name für ein anti-imperialistisches, euro-atlantisches Projekt, das nicht zuletzt einem wachsenden Misstrauen gegenüber dem "barbarischen" Russland entsprang. Auch die britischen Comtisten, die auf der Insel als Erste vom "Westen" sprachen (ausführlich dazu Kapitel 2), Friedrich Nietzsche und viele Andere werden zitiert, um die These zu belegen: "It was opposed to Russia, primarily, that 'the West' emerged and gained a meaning." (42).

Im langen Rest des Buches differenzieren sich die Standpunkte so weit, dass es immer schwieriger wird, ähnlich prägnante Thesen zu entwickeln. Varouxakis ist dafür zu danken, dass er es gar nicht erst versucht. Von Periode zu Periode verschoben sich die Konstellationen von Abgrenzung und Annäherung. Die Weltkriege und der Kalte Krieg vereinfachten die Frontlinien, während in der Zwischenkriegszeit und wiederum in der jüngsten Vergangenheit seit 1990 eine mehr oder weniger produktive Begriffsverwirrung herrschte und weiter herrscht.

Im Gegensatz zur vielfach klassikerlastigen Literatur auf dem Feld von "history of international thought" zeigt Georgios Varouxakis eine kenntnisreiche Zuneigung zu Autoren aus der zweiten Reihe, die an Heinz Gollwitzers unentbehrliche Geschichte des weltpolitischen Denkens erinnert. [5] Gewiss, Thomas Mann, Oswald Spengler, W.E.B. Du Bois, Walter Lippmann, Albert Camus, Arnold J. Toynbee, Simone Weil, Hannah Arendt, Milan Kundera, Francis Fukuyama, Samuel Huntington und Jürgen Habermas fehlen nicht. Wer aber hätte an eindrucksvolle Intellektuelle wie den griechischen Geschichtsphilosophen Markos Renieris, den Gründervater der US-Politikwissenschaft Francis (Franz) Lieber und den afro-amerikanischen Philosophen Alain LeRoy Locke gedacht oder an den von Steve Bannon und Aleksandr Dugin gleichermaßen geschätzten Konvertiten zum Islam René Guénon?

Mitunter sind die Kontroversen, die durch einflussreiche Bücher ausgelöst wurden, mindestens so interessant wie diese Bücher selbst. Das wird beispielhaft an den Debatten über Oswald Spengler und Samuel Huntington gezeigt. Nicht Manifeste und Glaubensbekenntnisse (bis hin zu einer erstaunlich pro-westlichen Rede Donald Trumps in Warschau im Juli 2017) stoßen zum intellektuellen Kern des "Westens" vor, sondern Autoren, die den inneren Widerspruch des Konzepts aufdecken, also phrasen- und illusionslose Freunde des Westens wie der französische Soziologe und Publizist Raymond Aron, der afro-amerikanische Schriftsteller Richard Wright und der griechisch-französische Allroundtheoretiker Cornelius Castoriadis.

In dieser Haltung nutzt Varouxakis das Schlusskapitel zu einer Apologie des Westens gegen seine - vor allem postkolonialen - Verächter und wird unvermeidlich einer Maxime untreu, die er aus Nietzsches Zur Genealogie der Moral übernommen hat: "[...] definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat". Als offene Ideengeschichte des Westens, die ihrem formlosen Gegenstand ohne Systematisierungszwang geschmeidig folgt ("situational, contingent and contextual", 337), verdient das Buch breite Aufmerksamkeit. Hat es aber "the full range of political, military/defensive, economic and cultural/civilisational connotations" des Konzepts (287) abgedeckt? Was das Militärische und vor allem das Ökonomische betrifft, sind leichte Zweifel angebracht. Hat der "Westen" nicht doch etwas mehr mit Kapitalismus zu tun, als man hier erfährt, und sollte man nicht hören, was Ökonomen dazu zu sagen hatten?


Anmerkungen:

[1] Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, 4 Bde., München 2009-15.

[2] Zwei Neuerscheinungen diskutiert: Hervé Inglebert: L'Occident / The West (Rezension), in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/10/38257.html.

[3] Herausragend ist: Riccardo Bavaj / Martina Steber (eds.): "Germany and The West". The History of a Modern Concept, New York 2015.

[4[ Marcello Carmagnani: The Other West. Latin America from Invasion to Globalization, Berkeley 2011 [L'altro Occidente, Turin 2003].

[5] Heinz Gollwitzer: Geschichte des weltpolitischen Denkens, 2 Bde., Göttingen 1972-82.

Rezension über:

Georgios Varouxakis: The West. The History of an Idea, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2025, XVIII + 491 S., zahlr. Abb., ISBN 978-0-691-17718-2, USD 39,95

Rezension von:
Jürgen Osterhammel
Freiburg Institute for Advanced Studies
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Osterhammel: Rezension von: Georgios Varouxakis: The West. The History of an Idea, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 12 [15.12.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/12/40237.html


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