sehepunkte 25 (2025), Nr. 12

Christina Kiaer (ed.): Collective Threads

Der englischsprachige Sammelband und gleichzeitige Ausstellungskatalog Collective Threads: Anna Andreeva at the Red Rose Silk Factory, herausgegeben von Christina Kiaer, widmet sich der sowjetischen Textilkünstlerin Anna Andreeva (1917-2008) und begreift sie als wichtige Schlüsselfigur einer sowjetischen Moderne. Die gestalterische Bandbreite und hohe Qualität von Andreevas Stoffmusterentwürfen schließen an den russisch-sowjetischen Konstruktivismus einer Liobov Popova an, nur im Medium des Textilen. Der fundierte und mit viel Bildmaterial gut dokumentierte Band überzeugt durch konzeptuelle Schärfe und inhaltliche Präzision: Die Autorinnen und Autoren verankern Andreevas Arbeit in der Kunst- und Textilgeschichte und verstehen das Textile nicht als Dekor, sondern als Denkfigur von politischen und ästhetischen Ordnungssystemen.

1917 in eine wohlhabende Familie geboren, führten die politischen Zugangsbeschränkungen der kommunistischen Regierung Andreeva ans Moskauer Textilinstitut. Danach war sie über vier Jahrzehnte in der wichtigsten sowjetischen Textilfabrik Krasnaya Roza in Moskau als leitende Gestalterin tätig und widersetzte sich, wo immer möglich, zeitlebens den politischen Auflagen der kommunistischen Regierung, von denen ihr Designprozess nicht unangetastet blieb.

Der Katalog entstand in Kooperation mit dem MOMus - Museum of Modern Art in Thessaloniki und rekonstruiert das Oeuvre dieser weitgehend vergessenen Protagonistin der sowjetischen Nachkriegsmoderne, das eine Schnittstelle von industrieller Textilproduktion, weiblicher Kollektivarbeit und künstlerischer Innovation markiert. Collective Threads steht somit am Beginn der textilgeschichtlich wie kunstwissenschaftlich bislang ausgebliebenen Aufarbeitung von Andreevas Schaffen.

In hervorragender Gestaltung von Scheidegger & Spiess verbindet der Band wissenschaftliche Essays mit präzise edierten Dokumenten. Erstmals seit 2018 wird bisher unpubliziertes Bildmaterial aus dem Nachlass - von Skizzen über Stoffmuster bis zu historischen Fotografien - über Andreeva publiziert. Die Herausgeberin Christina Kiaer forscht seit vielen Jahren zur Sowjetunion, zur Kunst des sowjetischen Imperiums und internationalem Sozialismus. Hervorzuheben ist ihr Textbeitrag Red Threads: Women's Collective Textiles from Constructivism to the Postwar Factory, der das theoretische Rückgrat bildet. Kiaer zeichnet nach, wie Andreeva als artist-technologist die utopischen Konzepte des Konstruktivismus in den industriellen Alltag der sowjetischen Textilproduktion - und damit auch maßgeblich der Mode der Zeit - überführte.

Weitere Beiträge widmen sich den progressiven Entwürfen, die zwischen Abstraktion und Kybernetik oszillieren (Xenia Vytuleva-Herz mit Gleb Vytulev; Julia Tulovsky), oder der Ästhetik eines postrevolutionären Sozialismus, der Kunst und Leben verbunden wissen wollte, etwa im Fall der Aufträge für den Club of Energy Workers (Dieter Roelstraete; Aleksandra Selivanova). Neben der Untersuchung geschlechtlicher Bedingungen moderner Textilproduktion (Anna Dumont) und den technologischen Unterströmungen textiler Design- und Produktionsprozesse (Julia Bryan-Wilson) werden Andreevas visueller Experimente und Vorwegnahmen späterer Formfindungen wie der Op-Art diskutiert (Evangelos Kotsioris). Insgesamt wird deutlich, dass die sowjetische Textilproduktion nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine ästhetische Institution war und Gestaltung als soziale Praxis verstanden wissen wollte.

In den geometrischen Stoffentwürfen der 1960er Jahre erreicht Andreevas Formdenken seine größte Radikalität. Werke wie Cheremushki (1958) oder Greetings, Moscow! (1959) verwandeln urbane Raster in dicht modulierte Systeme aus farbig stark akzentuierten Linien, Flächen und Intervallen. Die Wiederholung des pattern wird hier zum Medium der Erkenntnis: Was zunächst wie reine Ornamente erscheinen, folgt der Logik einer visuellen Codierung. Die Muster lesen sich wie Diagramme, die gleichermaßen Bewegung und Ordnung erzeugen. Mit der heutigen Handykamera können sie tatsächlich nicht fotografiert werden, da sie stets als in die Leere führender QR-Code erkannt werden. Insofern stehen sie für die "vor-digitale Intuition" (35) dieser Designerin, in der Struktur nicht nur abgebildet wird, sondern Inhalte mit textilen Mitteln kodiert werden. Diese Stoffe sind also nicht nur dekorativ, sondern vielmehr Modelle für die Wahrnehmung im industriellen Zeitalter. Andreeva übersetzt die rationale Grammatik des Konstruktivismus in ein optisch vibrierendes Feld. Ihre Textilien fungieren so als frühe Studien über Informationsdichte, Repetition und kollektive Wahrnehmung - Begriffe, die erst Jahrzehnte später im digitalen Diskurs theoretisch gefasst werden. Ihre sogenannten commemorative silk scarfs - beinahe ein eigenes Genre der 1950er Jahre -, bilden die Gegenstimme zur rationalen Strenge der auf die zunehmende Industrialisierung reagierenden Entwürfe. Zugleich tragen sie eine eminent politische Dimension: Sie sind darauf ausgelegt, die sowjetische Ideologie im Ausland zu propagieren, wie es etwa der Entwurf zu Yuri Gagarin unter dem Titel Glory to the First Cosmonaut deutlich zeigt. Die quadratischen Seidenschals wurden oft für politische oder industrielle Jubiläen entworfen und fassen ideologische Embleme, Monumente oder kosmische Zeichen in feine Linienfelder. Kotsioris beschreibt sie in seinem Text als gewebte Gedächtniskarten.

Collective Threads steht exemplarisch für eine Forschung, die das Textile nicht länger als Randmedium, sondern als epistemische Kategorie begreift. Wie parallele Ausstellungen - etwa Woven Histories: Textiles and Modern Abstraction (Los Angeles, LACMA 2023-25) oder Unravel: The Power and Politics of Textiles in Art (London, Barbican 2024) - betont auch dieser die Ausstellung begleitende Band die Eigenständigkeit textiler Kunstformen. Während westliche Diskurse lange Zeit das autonome, durch ein Individuum geschaffene Werk feierten, zeigt Collective Threads eine sozialistische Ästhetik, die auf Kooperation und geteiltem Wissen basiert. Der Band ist ein wichtiger Beitrag zur Kunstgeschichte der Moderne: Er zeigt, dass Andreevas Textilien mehr sind als angewandtes Kunsthandwerk oder nur Stoffmusterentwürfe, die im industriellen Maßstab hergestellt wurden. Ihre Formfindungen überführen Rationalität und Imagination in Stoff und können als textile Notation der sowjetischen Moderne verstanden werden.

Rezension über:

Christina Kiaer (ed.): Collective Threads. Anna Andreeva at the Red Rose Silk Factory, Zürich: Verlag Scheidegger & Spiess 2025, 368 S., 418 Farb-, 55 s/w-Abb., ISBN 978-3-03942-249-4, EUR 48,00

Rezension von:
Leena Crasemann
Basel
Empfohlene Zitierweise:
Leena Crasemann: Rezension von: Christina Kiaer (ed.): Collective Threads. Anna Andreeva at the Red Rose Silk Factory, Zürich: Verlag Scheidegger & Spiess 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 12 [15.12.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/12/40325.html


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