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Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2003, 735 S., ISBN 3-10-039309-0, EUR 29,90.
Rezensiert von:
Armin Nolzen
Warburg
Das vorliegende Personenlexikon, das der Medizinhistoriker Ernst Klee in mehr als 25 Forschungsjahren zusammengestellt hat, enthält 4.300 biografische Einträge zu den wichtigsten Persönlichkeiten des "Dritten Reiches". Wie sich aus dem Untertitel entnehmen lässt, beschränkt sich Klee nicht nur auf die Zeit bis 1945, sondern hat auch versucht, die Nachkriegskarrieren der von ihm porträtierten Personen zu rekonstruieren. Den Impetus, eine solche Sisyphusarbeit auf sich zu nehmen, bezog der Autor in erster Linie aus der skandalösen Praxis gängiger biografischer Lexika, die Lebensläufe von Ärzten, Wissenschaftlern, Richtern, Journalisten und Politikern immer erst in der Zeit nach 1945 beginnen zu lassen und die Rolle, die diese Protagonisten im NS-Staat spielten, zu unterschlagen. Es ist daher zu begrüßen, dass nunmehr ein Personenlexikon vorliegt, dessen Anspruch es ist, die Karriere der NS-Eliten über die Epochenzäsur von 1945 hinaus nachzuzeichnen.
Alle Personeneinträge folgen einem groben Raster: Durchgängig genannt werden Geburts- und Todesdatum, Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Gliederungen, die jeweilige Funktion im NS-Staat und, soweit Klee überhaupt Daten darüber vorlagen, der Werdegang nach 1945. Oft zitiert er aus dem Schrifttum der Porträtierten oder aus Beurteilungen durch vorgesetzte Dienststellen, um individuelle Verantwortlichkeiten zu illustrieren. In vielen, jedoch bei weitem nicht in allen Fällen nennt er zudem die Quelle seiner Informationen. Manchmal greift Klee auf bislang unveröffentlichte Akten zurück, die in Kurzzitierweise ausgewiesen werden. Ein Literaturverzeichnis und ein Glossar der wichtigsten NS-Institutionen und -Organisationen beschließen den vorliegenden Band, der eine wahrhaft herkulische Leistung darstellt. Nie zuvor hat ein einzelner Forscher eine solche Arbeit allein zu schultern gewagt.
Die Stärken dieses Personenlexikons liegen auf Klees ureigenem Arbeitsgebiet, der Medizingeschichte und den Natur- und Humanwissenschaften. Es gibt kaum einen Arzt, Internisten, Physiologen, Chirurgen, Psychiater, Biologen, Chemiker, Physiker und Pharmakologen, dessen unheilvolles Wirken im NS-Staat Klee nicht nachzeichnet. So brachte es der Anatom Robert Herrlinger, der 40-60 Sekunden nach dem Tode die Körper von der Gestapo ermordeter Polen wissenschaftlich "verwertete", nach dem Krieg bald wieder zu einem Lehrstuhl in Kiel, 1968 stieg er zum Präsident der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte auf. Sein alter Weggefährte, der Anatom Hermann Voß, der vor 1945 noch das polnische Volk ausrotten wollte, war von 1952-1962 Ordinarius in Jena und erhielt 1959 den Titel "Hervorragender Wissenschaftler des Volkes" zuerkannt. Ähnliche Beispiele finden sich bei Klee zuhauf, und zwar auch für die Kulturwissenschaften. So porträtiert er, mit Ausnahme von Hans Rothfels, jene führenden deutschen Nachkriegshistoriker, die in den letzten Jahren zum Gegenstand einer fruchtbaren fachinternen Debatte geworden sind. Auch in der frühen Bundesrepublik einflussreiche Soziologen wie Hans Freyer und Helmut Schelsky werden im Hinblick auf ihre Rolle im NS-Staat kritisch analysiert. Dasselbe gilt für Germanisten und Theologen, die zahlenmäßig freilich etwas schwächer vertreten sind.
Deutlich unterrepräsentiert ist der deutsche Widerstand gegen Hitler. Einträge zu Hans Coppi, Alfred Delp, Willi Graf, Nikolaus Gross, Hermann Maas, Anton Saefkow, Alexander Schmorell, Henning von Tresckow, Adam von Trott zu Solz, Josef Wirmer und vielen anderen, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben ließen, wird man in diesem Personenlexikon vergeblich suchen. Andere Mitglieder des Widerstands, etwa Dietrich Bonhoeffer, Carl Friedrich Goerdeler, Hans von Dohnanyi, Edith Stein und Ulrich von Hassell werden viel zu knapp abgehandelt. Oftmals belässt es Klee dabei, Daten zur Kooperation dieser Personen mit dem NS-Staat zu kompilieren, ohne deren Rolle im Widerstand angemessen zu würdigen. Ähnliche Lücken bestehen im Bereich von Film, Theater, Fernsehen und Propaganda, also beim Kulturapparat des NS-Staates. So vermisst man Schauspieler und Regisseure wie Hans Albers, Axel von Ambesser, Jürgen von Alten, Ewald Balser und Willy Birgel, die ihre Karriere in der Bundesrepublik Deutschland nahtlos fortsetzten. Fritz Hippler, Reichsfilmintendant und Regisseur des antisemitischen Machwerks "Der Ewige Jude", kommt ebenso wenig vor. Dies sind beileibe keine Einzelfälle in einem ansonsten ausgewogenen Lexikon. Vielmehr zeigt sich darin, dass Klee die einzelnen gesellschaftlichen Funktionsbereiche - also Politik, Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft, Kunst, Religion, Erziehung und Medien - sehr ungleichgewichtig behandelt.
Darüber hinaus ist eine große Zahl der Personeneinträge inhaltlich von schlechter Qualität. Viele SS-Täter, etwa Karl-Maria Demelhuber, Ulrich Greifelt, Richard Jungclaus, Konstantin Kammerhofer, Franz Kutschera, Kurt Knoblauch, Hans-Adolf Prützmann, Rudolf Querner und Martin Sandberger, werden in wenigen Zeilen abgehandelt, die nur rudimentärste Angaben zu Berufsstationen und Dienstgraden beinhalten. Manche dieser Einträge muten so an, als habe Klee sie aus Personenglossaren der einschlägigen Sekundärliteratur abgeschrieben. In anderen finden sich wiederum Quisquilien, die im Vergleich zu den Verantwortlichkeiten der Vernichtungstäter uninteressant sind. So erfahren wir über den "Nordisten" Bernhard Kummer, dass er in der Gruppe "Lebensmächte und Wesen des Indogermanentums beim Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften" mitarbeitete. Wenig gehaltvoll sind auch einige Einträge zur politischen Elite. Adolf Hitler widmet Klee ganze 18 Zeilen und damit in etwa denselben Umfang wie Werner Köster, dem Fachspartenleiter Nichteisenhaltige Metalle in der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Beim Eintrag zu Joseph Goebbels erfährt man einiges über die luxuriösen Herrensitze des Propagandaministers, wenig hingegen über seine rastlosen Aktivitäten während des Krieges. Ähnliches gilt für Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop sowie für Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk. Zu oft hat Klee kein Gespür dafür, welche Informationen wichtig (und daher mitteilenswert) sind und welche nicht.
Ein weiteres Problem ergibt sich auch aus dem Anspruch des Lexikons, die Nachkriegskarrieren der NS-Eliten nachzuzeichnen. Unklar bleibt, wie viele der von Klee porträtierten Personen nach 1945 keine beruflichen Nachteile erlitten oder gar besser dotierte berufliche Stellungen erklommen, obwohl sie vorher zu den NS-Eliten gezählt hatten. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Klee diese Frage in einem einleitenden Beitrag aufgegriffen und eine kritische Synthese der einschlägigen Literatur zum Thema versucht hätte. Dadurch wäre dem Leser zu vermitteln gewesen, welche NS-Eliten denn eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg Karriere machten und welche nicht. Bei Klee entsteht der Eindruck, die gesamte Trägerschicht des NS-Staates sei nach 1945 ungeschoren geblieben oder habe sich nahtlos in die beiden neuen deutschen Staaten eingefügt. Das vorliegende Personenlexikon ist deshalb nur bedingt zu empfehlen. Wer sich über die Lebenswege prominenter deutscher und österreichischer Ärzte und Wissenschaftler während des 20. Jahrhunderts informieren will, sollte es konsultieren. Zu den meisten anderen Gruppen von NS-Tätern gibt es jedoch Nachschlagewerke, die weitaus informativer sind.
Redaktionelle Betreuung: Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Armin Nolzen: Rezension von: Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2003, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 12 [15.12.2003], URL: <http://www.sehepunkte.de/2003/12/3867.html>
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