Thomas Prüfer: Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft (= Beiträge zur Geschichtskultur; Bd. 24), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, VIII + 392 S., ISBN 3-412-05802-5, EUR 34,90
Rezensiert von:
Holger Bösmann
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Die von Thomas Prüfer im Jahr 2000 vorgelegte, von Otto Dann betreute Kölner Dissertation hebt an mit einer "Momentaufnahme" (1) aus dem Jahr 1791: Das Gerücht kursierte, dass der bedeutendste deutsche Geschichtsschreiber, Friedrich Schiller, gestorben sei. Nicht als zweiten Weimarer Klassiker neben Goethe, als Dramatiker und Dichter, stellt Prüfer Schiller vor, sondern als Historiker. Dass diese Seite des Autors keine Beachtung fand und findet, sieht Prüfer in zwei Ursachen begründet: Zum Ersten kann die "historische Phase" Schillers "werkgeschichtlich relativ klar" abgegrenzt und auf die Jahre von 1787 bis 1792 beschränkt werden (2). Zum anderen hat der Historismus eine Gründungsgeschichte der modernen Geschichtswissenschaft geschrieben, die für Schiller und dessen Forschungsstandards keinen Platz ließ. Die Aufgabenteilung, die Literaturwissenschaftlern die Beschäftigung mit Schillers Lyrik und Dramatik und den Philosophen die Untersuchung seiner philosophischen Ästhetik überließ, wurde - abgesehen von einigen Einzelstudien - erst durch ein interdisziplinäres Interesse an dem Historiker Schiller gegen Ende der 1970er-Jahre ergänzt. Vor allem in den 1990er-Jahren entstanden im Umfeld der Kommentierung der Historischen Schriften Schillers innerhalb der Nationalausgabe, an der auch Thomas Prüfer beteiligt gewesen ist, grundlegende Arbeiten.
Prüfer versteht seinen Text als "wissenschaftsgeschichtlich orientierte Arbeit", die in einer "konzentrischen" Verfahrensweise "die Bedeutung der Geschichtsschreibung Schillers durch sich wechselseitig bedingende Analysen der lebens-, werk- und diskursgeschichtlichen Zusammenhänge einzukreisen" versucht (9). Damit begegnet er einem Problem, welches sich mit Schillers Historiografie gleich zweifach stellt: Das Verhältnis der Paradigmen von Aufklärungsgeschichte und Historismus erweist sich für die Historiografiegeschichte als ein grundsätzliches Problem: Entweder verortet man die Aufklärungshistorie in der Entstehungsgeschichte des Historismus und kann eine Kontinuität der Entwicklung der Geschichtsschreibung feststellen (Peter Hanns Reill), oder man betont den Bruch zwischen den beiden Paradigmen und damit die Diskontinuität (Ulrich Muhlack). Eine dritte Position nimmt den Strukturwandel und die Transformationen der modernen Geschichtswissenschaft in den Blick und kann eine Diskontinuität der Paradigmen innerhalb einer Kontinuität konstatieren (Jörn Rüsen und Horst Walter Blanke). Doch ein Phänomen wie "Schiller als Historiker" lässt sich mit diesen Erklärungsansätzen nicht vollständig erfassen. Einerseits den Paradigmen der Aufklärungshistoriografie eines Schlözer nahe, lässt sich Schiller andererseits aufgrund der Narrativität seiner Geschichtsschreibung als Vorläufer eines Ranke interpretieren. Gegen die Einordnung in eine paradigmatische Historiografiegeschichte verteidigt Prüfer den Eigensinn des historischen Phänomens des Historikers Schiller und wendet die Blickrichtung um. Aus der Perspektive Schillers soll die Historiografiegeschichte gedeutet werden, um einen genuin historischen Bedeutungshorizont zu gewinnen.
Dazu zieht Prüfer 'konzentrische Kreise', deren Mittelpunkt zunächst die Biografie Schillers bildet (Kapitel II). Dessen seit 1786 entfachtes Interesse an der Geschichte sieht Prüfer als existenziell begründet an. Als Suche nach einer Identität, als Neuanfang nach den Jahren an der Mannheimer Bühne stellt sich die Beschäftigung mit dem historischen Sujet dar. Geschichte erweist sich für Schiller als Medium der Reflexion über die eigene Identität - vom intellektuellen Verhältnis des Einzelnen zur Geschichte über die soziale Stellung, die sich in der Berufswahl als Historiker niederschlägt, bis hin zur Einsicht in seine exempte Stellung als Extraordinarius an der Universität Jena. Der Haupttitel der Arbeit, "Die Bildung der Geschichte", wird damit bereits in einer ihrer Dimensionen, der Bildung durch die Geschichte, erfasst. Schillers Jenaer Antrittsvorlesung "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" vom Mai 1789, die im Folgenden den Mittelpunkt der intensiven 'konzentrischen' Lektüren Prüfers bildet, entwirft das Programm einer "Bildende[n] Geschichte" (Kapitel III) im Horizont von Schlözers und Gatterers Pragmatismus, erweitert diesen aber durch eine historische Erziehung des Menschen. Um diese Wirkung zu erzielen, ist der Historiker auf einen konstruktivistischen Wahrheitsbegriff angewiesen. Die ästhetische Dimension des Wissens, "[d]ie Kunst der Wissenschaft" (Kapitel IV), vermag die fragmentarischen und kontingenten Daten zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden. Die auf Schillers medizinischer Ausbildung fußende "Anthropologie der Geschichte" (Kapitel V) versteht den Menschen als historisches Wesen und setzt ihn zugleich als Subjekt der Geschichte ein. Die Synthese von historischer Anthropologie und anthropologischer Historie führt zu einer rekursiven Bestimmung von Mensch und Geschichte, die sich im "Fortschritt der Menschheit" (Kapitel VI) niederschlägt.
Schillers Geschichtsbegriff interpretiert Prüfer als Übergang von der pragmatischen zur idealistischen Geschichtsauffassung, wobei allerdings beide Modelle miteinander vermittelt werden. Insbesondere in der produktiven Aneignung der Konzeptionen Kants und Herders entwickelt Schiller ein Fortschrittsmodell, das sowohl die geschichtliche Progression der Menschheit als auch die historischen Variationen des Menschlichen in einen linearen Prozess mit zyklischen Dimensionen zusammenführt, der spiralförmig verläuft (205).
Arbeiteten die ersten sechs Kapitel Schillers Konzept von einer Bildung des Menschen durch die Geschichte heraus, so wenden sich die abschließenden Kapitel der Bildung der Geschichte durch den Historiker zu (VII: Die Epistemologie der Geschichte; VIII: Forschende Geschichtsschreibung; IX: Geschichtsbildung). Das Verhältnis von historischem Ereignis und Erzählung, der Standpunkt des Historikers und die sprachliche und narrative Sinnbildung durch diesen werden analysiert und Schillers konstruktivistischer Ansatz dargestellt. Dieser wird in einen größeren Diskurszusammenhang gebracht, indem ein historiografie- und ideengeschichtlicher Abriss seit dem späten 17. Jahrhundert gegeben und insbesondere die Bedeutung der fachfremden, philosophischen Konzeptionen Kants und Herders hervorgehoben wird. Schillers Historik erscheint als moderne, die eigenen gesellschaftlichen und historischen Bedingungen reflektierende Geschichtsschreibung, die einen Beitrag zur historischen Sinnbildung und damit der Bildung des Menschen im Sinne Humboldts liefert.
Prüfers Arbeit ist nicht nur eine äußerst detaillierte Darstellung von Schillers historischen Konzepten im Rahmen seines Gesamtwerks, sondern bietet auch einen umfassenden Überblick und Einblick in die Geschichtsschreibung der Aufklärung und die Philosophie des Idealismus. Ermöglicht wird dies durch die Konzentration einerseits auf die sehr kurze "historische Periode" in Schillers Werk und besonders auf die Antrittsvorlesung als ergiebigen Schlüsseltext, von dem aus andererseits durch das Ziehen vieler 'konzentrischer Kreise' ein großer Zusammenhang hergestellt werden kann - was allerdings zur mehrfachen Wiederholung bereits vorgestellter Kontexte und Sachverhalte (wie dem Paradigma der spätaufklärerischen Historiografie oder Schillers produktiver Auseinandersetzung mit Herder und Kant) führt. Prüfer unterläuft bisweilen auch eine Einordnung von Schillers Historik als 'Schritt' in einer Fortschrittsgeschichte der Geschichtswissenschaft (156, 289). Doch im Ganzen stellt die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Geschichte der Konstituierung der Moderne um 1800 dar.
Redaktionelle Betreuung: Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Holger Bösmann: Rezension von: Thomas Prüfer: Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: <http://www.sehepunkte.de/2004/11/1902.html>
Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.
|