Jochen Fornasier / Burkhard Böttger (Hg.): Das Bosporanische Reich. Der Nordosten des Schwarzen Meeres in der Antike, Mainz: Philipp von Zabern 2002, IV + 126 S., 123 farb-, 11 s/w-, 17 Strich-Abb., ISBN 3-8053-2895-8, EUR 37,50
Rezensiert von:
Florian S. Knauß
Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek München
Gut ein Jahrzehnt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat es Sinn, wenn zwei Fachleute, Jochen Fornasier und Burkhard Böttger, der für die Klassische Antike im Schwarzmeerraum zuständige Referent der Eurasienabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts und sein Vorgänger, eine Zwischenbilanz der Forschungen zum Bosporanischen Reich vorlegen. Dabei kommen folgerichtig in erster Linie die russischen Wissenschaftler zu Wort, deren Arbeiten der westlichen Wissenschaft bis dato aus sprachlichen Gründen weitgehend verschlossen geblieben sind. Den Anlass für diese Publikation aber bilden die Aktivitäten deutscher Archäologen in diesem Raum, welche vor allem seit der Gründung der Eurasienabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts im Jahr 1995 in Kooperation mit russischen und ukrainischen Kollegen verstärkt eingesetzt haben. In der "erstmaligen Zusammenschau des gegenwärtigen Kenntnisstandes zum Bosporanischen Reich" (3) in deutscher Sprache liegt das größte Verdienst dieses Buches.
Nach einem Vorwort (3) von Hermann Parzinger, Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts und vormals Leiter der Eurasienabteilung, umreißen die Herausgeber in einer kurzen Einleitung (4-6) den Gegenstand der folgenden Untersuchungen und die Zielsetzung dieses Buches, nämlich "die wesentlichen Charakteristika und archäologischen Besonderheiten des Bosporanischen Reiches im Lichte der neuesten Forschungen zu präsentieren" und einem "breiten Interessentenkreis verständlich zu machen" (6).
Anschließend zeigen Jochen Fornasier und Burkhard Böttger in einer längeren Darstellung der Forschungsgeschichte (7-20), wie sich die Zielsetzungen und Methoden seit dem 18. Jahrhundert bis heute unter wechselnden politischen Rahmenbedingungen immer wieder verändert haben. Wiederholt wird mit dem Hinweis auf "bahnbrechende" und "einzigartige" Leistungen "hervorragender" Wissenschaftler das Interesse des Lesers geweckt; worin der Erkenntnisgewinn oder die methodischen Neuerungen ihrer Arbeiten jeweils bestanden, erfährt der Leser in der jüngeren, meist russischen Sekundärliteratur, welche in der Bibliografie (123) angeführt ist.
Alexander V. Podossinov fasst die Geschichte des Bosporanischen Reiches "Am Rande der Oikumene" (21-38) von der Gründung der verschiedenen Griechenstädte am Kimmerischen Bosporus durch ionische Kolonisten bis zu seinem gewaltsamen Ende unter dem Ansturm der Hunnen zusammen. Viele Herrschernamen des fast 300 Jahre regierenden Geschlechts der Spartokiden geben Grund zu der Annahme, dass damals "Vertreter des lokalen skytho-thrakischen, allerdings schon stark hellenisierten Adels an die Macht kamen." Alexander V. Podossinovs These, "dass die Griechen des Bosporus sich politisch, ökonomisch und kulturell der Lokalbevölkerung genähert hatten", will man gern folgen, doch wird sie lediglich mit dem Hinweis auf einen aus einem Kurgan bei Taman stammenden Sarkophag des 4./3. Jahrhunderts vor Christus (Abbildung 9) als Zeugnis für die "Verbindung griechischer und lokaler Grabtraditionen" belegt. Alle weiteren archäologischen Belege für die Verschmelzung griechischer und einheimischer Traditionen werden nur angedeutet; die abgebildeten Denkmäler (Abbildungen 17, 18) sind rein griechisch.
Es schließen sich sechs Beiträge zu einzelnen Fundplätzen an. Vladimir P. Tolstikov entwirft im folgenden Beitrag ein sehr anschauliches archäologisches Porträt der ehemaligen Hauptstadt "Pantikapeion" (38-58). Flüssig und gut verständlich fasst er die Erforschung der antiken Stadt zusammen, beschreibt präzise und klar gegliedert die einzelnen Denkmäler in chronologischer Folge. Fragestellungen werden deutlich formuliert, die Argumentation ist schlüssig und die Grenze zwischen archäologischem Befund und anschaulicher Rekonstruktion wird klar gezogen. Die Analyse der archäologischen Funde und Befunde, die durch Zeichnungen und Fotos in wünschenswerter Klarheit illustriert werden, gewinnt an Gestalt, weil Vladimir P. Tolstikov die Ergebnisse auch in den größeren Zusammenhang der historischen Ereignisse und der allgemeinen Kulturentwicklung stellt.
Die vielleicht bedeutendste griechische Stadt auf der Tamanhalbinsel, Phanagoria, stellt Vladimir D. Kuznecov vor (59-68). Der archäologische Befund ist hier weit schwieriger als in Pantikapeion, zumal weite Teile der antiken Stadt heute unter dem Meeresspiegel liegen. Aber nicht nur deshalb fällt es dem Leser schwer, die antike Stadtentwicklung nachzuvollziehen und sich ein Bild von der antiken Polis zu machen.
Die nordöstlichste Griechenstadt, das erst im 3. Jahrhundert vor Christus gegründete Tanais am Don, stellen die derzeitigen russischen und deutschen Ausgräber Tat'jana M. Arsen'eva, Burkhard Böttger und Jochen Fornasier vor (69-85). Die bisherigen Grabungsbefunde geben nur einen sehr fragmentarischen Eindruck der hellenistischen Stadt. Gern hätte man einen Plan der angesprochenen Peristylhäuser (73). Auch von anderen interessanten Einzelfunden, wie den Lampen in Form offener Fischerkähne (74), wünschte man sich eine Abbildung. Dasselbe gilt für die eingehend beschriebene Verteidigungsanlage (77), die unter Sauromates I. (93-123 nach Christus) entstand. Gleichwohl nimmt die kaiserzeitliche Stadt durch die vorgelegten Architekturpläne und Funde für uns deutlichere Formen an. Die spätere Besiedlung der Stadt durch die Goten lässt sich in Tanais archäologisch besonders eindrücklich fassen.
Pawel A. Larenok und Ortwin Dally geben in ihrem Beitrag zur frühen griechischen Siedlung bei "Taganrog" (86-91) zunächst eine knappe, aber klare Zusammenfassung der griechischen Schwarzmeerkolonisation sowie eine sehr instruktive Darstellung der Geografie und des Klimas in dieser Region, wie man sie weiter oben erwartet hätte. Darauf und auf archäologische Lesefunde stützt sich ihr plausibler Lokalisierungsvorschlag für die noch nicht ausgegrabene griechische Siedlung. Es wird ein stringentes Programm für zukünftige archäologische Forschungen an diesem Ort entworfen. Präzise beschreiben, klassifizieren und analysieren Pawel A. Larenok und Ortwin Dally die bescheidenen Funde; die daraus abgeleiteten Hypothesen können aufgrund der schmalen Materialbasis erst durch weitere Forschungen verifiziert werden, doch bleibt die Argumentation immer nachvollziehbar.
Unter dem modernen Anapa liegt das antike "Gorgippia", dessen vielfach eindrucksvolle archäologische Überreste Ekaterina M. Alekseeva (92-112) präsentiert. Das Bild der Stadt bleibt in Ermangelung von Architekturplänen vage. Das gilt sowohl für die Wohnbauten des 4./3. Jahrhunderts vor Christus (99) als auch für die hellenistischen Befestigungen (102) und spätere Bauten (106-107). Das durch eine Inschrift bezeugte Fest der Hermäen (99), ein eindrucksvoller Beleg für den griechischen Charakter der Stadt, wird nicht näher behandelt. Die vielen schönen, durchweg griechischen Einzelfunde in den Abbildungen bleiben weitgehend ohne Kontext. Der auffällige Wandel der Bestattungssitten hätte eine eingehendere Behandlung verdient.
Der letzte Beitrag von Klaus Stähler über "Die antike Siedlung Vyšesteblievskaja 11" (113-120) untersucht einen ganz wesentlichen Aspekt des Zusammenlebens von Griechen und Einheimischen, namentlich der Sinder, auf der Tamanhalbinsel. Hier wird einmal stärker die indigene Perspektive der Kontaktnahme in das Blickfeld gerückt. Die beschriebenen Befestigungsanlagen und Wohnbauten hätte man zwar gern auch in Abbildungen oder Planzeichnungen gesehen, doch lässt die gefundene Importkeramik erkennen, dass die Einheimischen nicht nur griechischen Wein, sondern auch die verfeinerte Lebensart der Fremden zu schätzen wussten. Ein sekundär als Mörser verwendetes dorisches Kapitell (Abbildung 10) deutet allerdings auch die Grenzen der Aufnahme griechischer Kultur an. Weitere, noch nicht eingehend untersuchte sindische Siedlungsplätze bringt Klaus Stähler mit Schifffahrt, Handel und militärischen Funktionen in Verbindung. Schließlich schlägt er vor, das bislang nur aus den antiken Textquellen bekannte Hauptheiligtum der Tamanhalbinsel, welches der "Aphrodite Urania, der Herrin von Apaturon" geweiht war, sowie den Hauptort der Sinder in der Nähe der beiden bekannten "Zwillingskurgane" zu lokalisieren.
Eine chronologische Übersichtstafel der Regenten des Bosporus (121), Anmerkungen (122-123), Bibliografie (123-125) und Bildnachweis (125-126) schließen das Buch ab.
In mehreren Beiträgen wird der Akkulturationsprozess angesprochen, der sich zwischen eingewanderten Griechen und indigenen Skythen, Sindern und anderen verfolgen lässt. Doch es ist nicht immer deutlich zu erkennen, inwieweit nun Griechen und "Barbaren" jeweils Anregungen voneinander aufgenommen haben und in welchen Bereichen dies unter Umständen nicht geschehen ist. Denkt man an Griechen, wenn von den Bewohnern der bosporanischen Poleis die Rede ist? Wieweit lassen sich griechische und "barbarische" Bosporaner etwa in der Kaiserzeit überhaupt noch voneinander trennen? Um für das Verbindende und das Trennende den Blick zu schärfen, wäre eine knappe Darstellung der einheimischen Kultur hilfreich gewesen.
Trotz der großen Zahl von Abbildungen, die in der von diesem Verlag gewohnt guten Druckqualität vorgelegt werden, gelingt es nur selten, ein anschauliches Bild zu zeichnen. Während eine Vielzahl von Bildern kaum nennenswerte Informationen liefert, vermisst man anschauliche fotografische oder zeichnerische Aufnahmen des Architekturbefundes und instruktive Karten. Nicht nur für die Zielgruppe der interessierten Laien ist die Geografie des Bosporanischen Reiches kaum bekannt. Zahlreiche in den Texten erwähnte Fluss- und Ortsnamen finden sich aber nicht in den verschiedenen Karten. Die Lage und Größendimension des besprochenen Raumes innerhalb des Schwarzen Meeres und der gesamten griechischen Oikumene hätten mit entsprechenden Karten leicht klar gemacht werden können, zumal die Bedeutung des Handels mit anderen griechischen Poleis in allen Beiträgen herausgestellt wird. Ferner wären geografische Karten mit Angabe der Siedlungsgebiete der indigenen Stämme sowie ein Maßstab geeignet, die Vorstellungskraft des Lesers zu unterstützen.
Der Rezensent ist sich der Schwierigkeit der Übersetzung durchaus bewusst, doch hätte man sich insbesondere in dieser Hinsicht bisweilen eine eingehendere Redaktion gewünscht. Da sich diese Publikationsreihe nicht nur an Fachwissenschaftler wendet, hätte man Fachbegriffe (zum Beispiel Metropolis, Apoikie, Kylix, Ergasterien), wenn schon nicht vermeiden, dann doch wenigstens erklären können.
Ungeachtet der angeführten Kritikpunkte wird zumindest im deutschen Sprachraum das Buch von Jochen Fornasier und Burkhard Böttger den Ausgangspunkt für jede weitere Beschäftigung mit dem Bosporanischen Reich bilden. Den Herausgebern ist unumschränkt zuzustimmen, wenn sie die Bedeutung des Austausches mit den russischen und ukrainischen Kollegen betonen, von dem beide Seiten profitieren können.
Redaktionelle Betreuung: Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Florian S. Knauß: Rezension von: Jochen Fornasier / Burkhard Böttger (Hg.): Das Bosporanische Reich. Der Nordosten des Schwarzen Meeres in der Antike, Mainz: Philipp von Zabern 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: <http://www.sehepunkte.de/2004/11/4878.html>
Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Rezension hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.
|